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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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zusammen und zog in einer Ecke des Raums einen Vorhang beiseite. Dahinter empfing sie ein düsteres Zimmer, in dessen Halbdunkel etwas Gewaltiges, verworren und kompliziert Aussehendes nur schwer zu erkennen war. Als Miss Devine die Laterne hineinbrachte, brach sich das Licht an einem Gewirr aus Glasröhren, die sich um ein Labyrinth aus Kugeln und Reagenzgläsern wanden. In der gegenüberliegenden Ecke mündeten etliche Röhren in einen großen, flachen Apparat, der mit Zahnrädern und Kolben übersät war. Im Zentrum dieser Apparatur, unter der größten Glaskugel von allen, stand ein Ledersessel.
    »Setz dich, Lily. Es dauert nur einen Moment.«
    Lily machte ein paar Schritte, die im Innern der Apparatur widerhallten. Als sie in dem Sessel saß, überkam sie ein Gefühl des Unbehagens. Miss Devine senkte eine Maske aus Rauchglas aus der Mitte der Maschine herab. Lily öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ihre Worte wurden sofort von der Maske erstickt, die die Glasmacherin ihr übers Gesicht schob.
    »Nicht bewegen, Lily«, rief Miss Devine und trippelte zu der Maschine in der Ecke. Lily hob die Hand, um die Maske abzunehmen, weil sie sagen wollte, dass das alles wohl doch keine so gute Idee war.
    Ein tiefes Summen ertönte. Die Maschine lief.
    Einen Moment lang spürte Lily überhaupt nichts. Dann ertönte ein Rauschen hinter ihren Ohren, als heulte der Wind durch die Röhren über ihr. Der Wind wurde lauter und lauter. Lilys Kopf fühlte sich an, als füllte er sich mit Luft, als würde dieser Wind in sie eindringen, tiefer und immer tiefer …
    Und dann spürte sie alles Mögliche in sich aufsteigen: Glück, Trauer, Angst, Begeisterung, Entsetzen, Gleichgültigkeit … Jedes dieser Gefühle blitzte intensiver in ihr auf als jemals zuvor, kochte hoch, stieg ihr zu Kopf und sauste dann, plötzlich beschleunigt, aus ihren Augen und ihrem Mund hinaus. Benommen sah sie, wie zischende, leuchtende Gase in die Röhren über ihr entwichen und immer rascher und rascher durch das dahinterliegende gläserne Gewebe davonwirbelten.
    Lily spürte nichts. Sie saß teilnahmslos da und beobachtete, wie die Farben sich fortdrehten. Irgendwo über ihr sah sie ein dichtes, schwarzes Gas, das sich von den anderen trennte, sah, wie es nach unten sank, kondensierte und dann in eine kleine Flasche neben ihr tröpfelte. Das war ihr Ekel. Sie fühlte sich leer, ausgehöhlt. Dann war ein Geräusch zu hören. Lily drehte die Augen zur Seite. Der Doktor hatte sich Zutritt zu dem Raum verschafft. Er rief Lily etwas zu, aber sie war zu müde, um ihm zuzuhören, zu träge, um den Kopf zur Seite zu drehen. Er zog an einem der Bedienhebel.
    Fauchend und zischend sprang die Maschine in den Rückwärtsgang. Einen grauenhaften Moment lang waberten die bunten Gase über ihr, dann strömten sie alle auf einmal wieder in sie zurück. Lily packte keuchend die Maske, versuchte, sie sich vom Gesicht zu reißen, als jedes Gefühl, das sie jemals empfunden hatte, sich Zutritt zu ihrem Kopf erzwang: Lachen und Weinen, Schreien und Lächeln. Sie sprang aus dem Sessel. Hinter sich hörte sie das Knirschen von Glas und dann ein lautes Krachen. Die Maske flog von ihrem Gesicht und zerschellte auf dem Boden.
    Sie blickte auf. Der Doktor sprang mit zornigem Gesicht auf sie zu. So wütend hatte sie ihn noch nie gesehen. Mit einem Mal spürte Lily, wie erneut ein Gefühl über sie herfiel, doch diesmal war es nur eines: Angst. Überwältigende, entsetzliche Angst vor diesem Gesicht. Sie drehte sich um und rannte davon.
    Sie lief durch den Laden. Sie lief hinaus auf die Straße. Sie lief immer weiter, schneller und immer schneller, lief, bis ihr die Beine wehtaten und ihre Lunge nach einer Pause schrie. Aber erst, als die Angst allmählich nachließ, erst, als sich diese alles verschlingende Panik wieder ganz hinten in ihren Kopf zurückzog, blieb sie stehen, sank auf die Knie und keuchte vor Erschöpfung.
    Sie legte sich mitten in den Dreck und den Schlamm und schloss die Augen.

 
KAPITEL 5
     
Der Diener
     
    Mark erwachte von einem fürchterlichen Klopfen an der Haustür.
    Er rieb sich die Augen, stolperte durch die Diele und fragte sich, ob Lily wohl auch jedes Mal, wenn ein Besucher gekommen war, die Tür hatte aufmachen müssen. Andererseits konnte er sich während seiner gesamten Zeit im Turm an keinen einzigen Besucher erinnern.
    Zähneknirschend zog er die rostigen Riegel zurück, mit denen die Tür verschlossen war. Von draußen erklang eine

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