Die Stadt der verkauften Traeume
sich nicht leisten, einen neuen zu erwerben. Abgesehen davon musste sie ihre Arbeit fertig machen. Benedikta wollte später vorbeikommen und sich erkundigen, wie es ihr mit dem Besuch im Waisenhaus ergangen war, und bis dahin musste sie aussehen, als sei alles bestens.
Ben hatte eine schwere Woche, denn Signora Sozinhos Hochzeitstag – der Tag des Festes – näherte sich, und der Gedanke an ihre Herrin war das Einzige, von dem sie wusste, dass es Benediktas Heiterkeit trüben konnte. Ben hatte die Signora so gern, dass Lily unwillkürlich an ihrer Zuneigung und ihrer Traurigkeit Anteil nahm. Die Signora war einst von der ganzen Stadt geliebt worden, und jetzt wehte sie wie ein Geist durch ihr Leben, und weder Ben noch Lily konnten etwas dagegen tun.
Was, wenn Theo recht hatte?
Lily packte Stößel und Mörser und mahlte wütend drauflos, zerstieß und zerstampfe noch mehr Kräuter zu Staub.
Stampf.
Sie sah sich vor ihrem inneren Auge, sah sich mit fast siebzig noch immer an diesem Tisch stehen und Medizin zubereiten, um die immergleiche Krankheit zu lindern.
Stampf.
Sie sah genauso aus wie Theophilus. Ernst, besorgt und besiegt.
Stampf.
Sie wollte sich nicht besiegen lassen. Theo hatte unrecht.
Er musste unrecht haben.
Stampf.
Es musste eine Möglichkeit geben, der Stadt zu zeigen, dass sie recht hatte. Allen die Augen zu öffnen.
Stampf.
Und vielleicht …
Stampf.
Lily hielt inne. Eine Idee nahm in ihrem Kopf Gestalt an.
Vielleicht gab es tatsächlich eine Möglichkeit.
KAPITEL 9
Die Zukunft
»Alles Gute, Mark. Mach uns Ehre.«
Das war bislang der schwierigste Moment gewesen: zu hören, wie Mr Prendergast diese Bemerkung aussprach, ergänzt durch einen gutmütigen Klaps auf den Rücken. Wenigstens der Graf war wie immer und warf ihm Blicke zu, die vermuten ließen, er sei weniger wert als der Staub, den sie aufwirbelten, als sie in der Kutsche zum großen Marktplatz ratterten. Es war auf eigenartige Weise ehrlich, denn der Graf hatte nie so getan, als ob er Mark mochte. Nur Prendergast, der nach parfümiertem Öl stank, grinste ihn weiter mit dicken Backen an, und Mark war gezwungen, dieses Grinsen zu erwidern. Wenn sie irgendetwas ahnten, würden sie seinen Auftritt sofort absagen, und nachdem er ihn so viele Monate darauf vorbereitet hatte, würde der Graf ihm bestimmt nicht verzeihen.
Mark rutschte unruhig auf seinem Sitz herum und versuchte durch die Menge zu blicken, die das Podium der Sterndeuter umringte. Alte Männer drängten sich von allen Seiten um ihn, begierig darauf, mit dem Grafen zu sprechen, der mit versteinertem Gesicht neben ihm saß. Mark hatte den Grafen noch nie zuvor bei Tageslicht gesehen. Er kam ihm zerbrechlicher vor, zumindest körperlich; auch sein Abstieg aus dem Observatorium war schmerzhaft langsam vonstattengegangen, und die wenigen Schritte, die er von der Kutsche bis zu seinem Thron inmitten der Sterndeuter zurückgelegt hatte, waren sehr unsicher gewesen. Aber das war nur Mark aufgefallen. In der Öffentlichkeit trug der Graf seine Jahre wie eine Rüstung. Er ging aufrecht, wies alle Hilfsangebote zurück, und wenn sein Blick auf die Umstehenden fiel, teilte sich die Menge, um ihn durchzulassen. Mark hatte fast Ehrfurcht vor ihm, und es fiel ihm schwer, nicht von der Erhabenheit des Anlasses überwältigt zu werden.
Als er sah, dass der Graf in eine Unterhaltung vertieft und Prendergast in der Menge verschwunden war, stand Mark auf und schob sich bis zum Rand des Podiums. Dort lehnte er sich an das verzierte Geländer, das so blank geputzt war, dass er sich darin spiegelte. Einen Moment lang blickte ihn ein unbekanntes Gesicht daraus an, eine Person, die mit feierlichem Mantel und Hut bekleidet war. Sein Siegel, der Seestern, funkelte ihm von jedem Knopf und aus jedem Muster entgegen – die gesamte Erscheinung kam ihm irgendwie komisch vor. Wie viele Besitztümer des Grafen waren für diese feinen Kleider eingetauscht worden? Die Ärmel waren so weich, dass sie mit Satin besetzt sein mussten; sogar seine Strümpfe waren aus Seide. Und all das für einen Tag – nur um einen Standpunkt zu beweisen und den Ruf eines anderen Mannes zu ruinieren.
Er betrachtete das Spektakel ringsumher. Er hatte noch nie am Großen Fest teilnehmen dürfen, nicht einmal als kleines Kind. Sein Vater war zu beschäftigt gewesen, um mit ihm hinzugehen, und für seine Mutter war es nur eine Zusammenkunft von Dieben und Betrügern gewesen. Das war es womöglich auch, aber
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