Die Stadt der verkauften Traeume
geben«, sagte Lily unbeirrt.
Theo sah sie mit müden Augen an. »Es gibt keinen anderen Weg, Lily.« Er rang die Hände und schloss dann kurz die Augen. »Angenommen, ich behandle einen Schuldner kostenlos. Welche Hoffnung hat er denn? Er wird immer noch auf der Straße sein und sich innerhalb einer Woche mit etwas anderem anstecken. Und was ist mit den Übrigen? Was ist mit den Tausenden von Schuldnern, die wir nicht gerettet haben? Was mit den Hunderten, die darunter leiden müssten, wenn wir selbst gezwungen wären, uns auf der Straße durchzuschlagen?« Theo hob hilflos die Hände. »Wir können nicht von Träumen leben, Lily.«
Lily wandte Theo den Rücken zu. Der Zorn saß ihr wie ein Kloß im Hals. Sie schämte sich dafür, dass ihre Augen ganz heiß wurden und vor Tränen zu kribbeln begannen.
»Was ist mit Mark?«, fragte sie und drehte sich wieder um. »Warum hast du ihm geholfen? Warum hast du einen Jungen eingetauscht, der so gut wie tot war, als sein Vater ihn verkauft hat? Oder willst du weiterhin so tun, als habe es sich bei ihm lediglich um ein Experiment gehandelt?«
Theo wich zurück, als hätte ihn etwas gestochen.
Lily bedauerte ihren Vorstoß sofort, denn eigentlich war sie nicht gern wütend auf den Doktor – er war während all der Monate stets sehr freundlich zu ihr gewesen. Doch nun konnte sie sich einfach nicht mehr zurückhalten. »Warum musstest du das Bedürfnis, etwas Gutes zu tun, hinter dieser Erklärung verstecken?« Sie beugte sich am Altar nach vorn, und nun sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus: »Warum hat Benedikta ihrer Herrin nie gesagt, dass sie mir den Weg nach Hause gezeigt hat, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen? Warum habe ich Mark für den Leseunterricht für mich putzen lassen, wo ich ihn doch so gern unterrichtet habe … Warum, Theo? Warum? Sollten wir nicht in der Lage sein, so etwas in aller Öffentlichkeit zu tun? Schämen wir uns dafür, etwas zu tun, das keinen Profit abwirft?«
Lily ließ den Kopf hängen und biss sich auf die Unterlippe, ihre Haare fielen ihr übers Gesicht. Ihre Kehle zog sich zusammen, und sie musste aufhören zu reden, sonst hätte sie laut aufgeschluchzt. Es schien ihr, als drängten die Jahre der Enttäuschung mit aller Macht aus ihr hinaus, aber Theo hatte es nicht verdient, das Ziel ihres Zorns zu sein.
Zu ihrer Verwunderung spürte sie die Hände des Doktors auf den ihren, die flach auf dem Altar lagen, und als sie aufblickte, sah sie seine sorgenvollen Augen. Lily musste schwer schlucken.
»Wenn es nur einen Menschen gäbe, der allen anderen zeigen würde, dass es auch einen anderen Weg gibt, Theo«, sagte sie mit schon festerer Stimme. »Wenn jemand mitten in der Stadt sich erheben würde, wo alle ihn sehen, und etwas tun würde, das ihm überhaupt nichts einbringt, sondern nur anderen eine Freude bereitet … Damit könnte man etwas beginnen, das niemand mehr aufhalten könnte. Es könnte dafür sorgen, dass die Menschen sehen und nachdenken … und sich verändern … und damit aufhören, Agora zu einer Stadt zu machen, in der Sechsjährige mitten in der Nacht weggebracht werden dürfen, ganz allein …«
Lilys Stimme versagte. Theo sah sie merkwürdig an. Einen Moment lang hatte sie den Eindruck, sie sehe Hoffnung in seinen Augen. Doch als er sprach, war seine Stimme traurig.
»Ich glaube, früher habe ich auch einmal so gedacht wie du. Als ich jünger war.« Er schürzte die Lippen. »Manchmal vergesse ich, wie jung du bist. Aber glaub mir, Lily, wir können nicht mehr tun. Wenn wir die Dinge nur ein bisschen besser machen, und das so lange wie möglich …« Theos Schultern sackten herab, und auf einmal wirkte er viel älter als seine achtundzwanzig Jahre. »Ein besseres Leben kann man nicht führen. Auch ich habe das lernen müssen, Lily.« Er seufzte. »Aber glaub mir nicht. Noch nicht. Diese Stadt lässt einen viel zu schnell altern.« Er straffte die Schultern. »Ich werde mal nach unserem Patienten sehen. Er bezahlt mit Getreide, das heißt, dass wir diese Woche etwas zu essen haben.«
Theo lächelte schwach, aber Lily erwiderte sein Lächeln nicht. Stumm und bedächtig zog sie ihre Hände weg. Sie sah ihm nach, als er zur Tür ging. Seine Schritte waren langsamer als je zuvor. Dann schloss sie die Augen und spürte, wie ein Schauer ihren ganzen Körper durchlief.
Sie atmete langsam und tief, versuchte, dem Drang zu widerstehen, den Mörser an die Wand zu werfen. Er war teuer, und sie konnten es
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