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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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eingetauscht.
     
    Mehr war es nicht. Lily las alles zweimal durch und versuchte, irgendetwas anderes zu finden, irgendwelche verborgenen Botschaften oder eine Vermutung, wo die Edelsteine oder die Windeln hergekommen sein mochten.
    Cherubina beugte sich über die Lehne von Lilys Stuhl und ließ ihre langen blonden Locken auf das Blatt baumeln.
    »Du liest ziemlich langsam, was?«, sagte sie kichernd. »Ach, an diese Edelsteine kann ich mich noch erinnern! Ein paar davon hatten wir bis vor kurzem noch, die hättest du mal sehen sollen. Man konnte sie gegen das Licht halten, und dann schienen sie von innen zu leuchten … Mami hätte einen für dich aufheben sollen, aber ich glaube, sie hat gesagt, wir mussten sie alle eintauschen.«
    Lily erhob sich. Sie war nicht mehr in der Lage, ihre Gedanken beisammenzuhalten, und ging hinüber zu dem Puppenhaus. Sie beugte sich darüber.
    »Lilith …«, murmelte sie vor sich hin und ließ den unvertrauten Namen, ihren Namen, über ihre Zunge rollen.
    Cherubina, die den Schmuck wieder in die Schubladen zurückschaufelte, blickte auf. »Ach ja, das war Mamis Idee, sie meinte, du brauchst keinen so förmlichen Namen. Komisch, das hatte ich ganz vergessen. Lily … Lilith … Aber so wichtig ist das auch wieder nicht.«
    »Nicht wichtig?« Lilys Stimme war gefährlich ruhig. Sie zog eine Puppe aus dem Puppenhaus und schaute ihr in die Glasaugen. »Ist es denn nicht wichtig für mich, dass ich meinen eigenen Namen kenne?«
    »Was ist schon ein Name?«, erwiderte Cherubina, setzte sich wieder an den Tisch und goss sich noch eine Tasse Tee ein. »Gefällt dir das? Das stammt aus einem Theaterstück, das ich gerade gelesen habe …«
    »Was ist schon ein Name?«, wiederholte Lily und spürte, wie sie das alte Papier in der Hand zerknüllte. »Ich will dir sagen, was so ein Name ist. Er ist alles, was ich habe. Alles, was ich jemals hatte.«
    Lily spürte ihr Herz immer schneller klopfen, je lauter ihre Stimme wurde.
    »Er ist das Einzige, was mir gehörte, als ich mit hundert anderen Mädchen hier aufbewahrt wurde, mit denen ich mich zusammenkauerte, um nicht gar so zu frieren. Es war die einzige Möglichkeit, mich daran zu erinnern, wer ich war, wenn deine Mutter uns beigebracht hat, uns zu unterwerfen, uns in nichts von den anderen Arbeitssklaven zu unterscheiden.« Lily warf die Puppe auf den Boden. »Er war das Einzige, was mich vor der Verzweiflung bewahrt hat, als ich aufwachte und feststellen musste, dass man mich mitten im Schlaf verkauft und in das Hinterzimmer eines Buchbinders verfrachtet hatte, wo ich für das Recht auf etwas Essen bei Kerzenlicht Lederlappen zusammennähen musste. Es war der Name, mit dem ich den Brief an den Grafen unterzeichnet habe, den Brief, der mich davor bewahrt hat, auf die Straße geworfen zu werden, sobald meine Finger zu groß waren für die winzigen Stiche.«
    Lily ging mit hochrotem Gesicht auf Cherubina zu. Sie hätte sie am liebsten bei den Schultern gepackt und das dumme Mädchen so lange geschüttelt, bis seine blauen Augen klapperten und ihm die goldenen Löckchen vom Kopf fielen. Stattdessen stand sie einfach nur da und zitterte vor Wut.
    »Es ist das Einzige, worauf jeder in dieser Stadt ein Recht hat. Nicht auf eine Familie oder auf Mitleid, nur dieses eine Wort, das man sein Eigen nennen darf. Und du und deine Mutter habt es mir weggenommen, und es ist euch noch nicht einmal aufgefallen.«
    Cherubina sah sie einen Augenblick verdutzt an. Dann rümpfte sie die Nase. »Ich glaube, als Baby hast du mir besser gefallen.« Dann drehte sie Lily kalt den Rücken zu und nippte an ihrem Tee. »Du findest doch bestimmt allein hinaus.«
     
    Lily marschierte kochend vor Wut durch die Flure. Sie bemerkte kaum, dass der Junge ihr wieder die Eingangstür aufmachte, und sie spürte auch nicht, wie sie draußen auf der Straße immer wieder angerempelt wurde, als sie sich ihren Weg zurück zum großen Marktplatz bahnte. Nicht einmal der Dekoration, die für das Fest in der kommenden Woche aufgehängt worden war und die ohnehin schon herausgeputzten Verkaufsstände schmückte, schenkte sie einen zweiten Blick. Erst als sie zu Hause ankam und die Seitentür scheppernd aufriss, entkrampften sich ihre Hände, und das Stück Papier fiel zu Boden. Sie knallte die Tür hinter sich zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete die beruhigende Luft des ehemaligen Tempels ein.
     
    »Bist du das, Lily?« Doktor Theophilus’ Stimme kam aus dem

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