Die Stadt der verkauften Traeume
anspannten, bereit, in die Menge hineinzupreschen, sich durch sie hindurchzuwühlen und zu verschwinden, vor dem Grafen und seinen Machenschaften davonzulaufen; denn sogar er konnte jetzt voraussehen, dass er hier keine Zukunft mehr haben würde.
Er legte die Schriftrolle nieder.
Und vernahm den ersten Ton.
Es war ein reiner, sauberer Klang, der sich aus der Menge erhob. Eine einzige Note, klar, hell und hoch.
Mark war der Erste, der sie sah. Eine Frau, deren schwarze Haare von Silberfäden durchzogen waren, stieg auf die Plattform auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Aus der Entfernung konnte Mark ihr Gesicht nicht erkennen, auch nicht das des Mannes, dessen Stimme sich mit der ihren vermischte, bis sich die Töne der Dunkelheit und des Lichts vermählten und gemeinsam emporschwangen.
Aber er verstand das Wort. Das eine Wort, das sie gemeinsam wieder und wieder sangen, das Wort, das sich durch Melodien und Notenwirbel wand und den gesamten Platz erfüllte.
»Ruhm … Ruhm … Ruhm, zur Freude unserer Stadt …«
Er hörte ein Rascheln hinter sich, dann stand Lord Ruthven neben ihm und stütze sich auf das Geländer. Er sah hinab, dorthin, wo sich die Menge um das Podium drängte, auf dem die beiden Sänger standen.
»Es ist schon so lange her, dass ich Signora Sozinho zum letzten Male habe singen hören. Ich dachte, ihre Stimme sei für immer verloren.« In Lord Ruthvens Stimme schwang ein Hauch von Wehmut mit. »Sozinho ist natürlich ein uralter Name. Ich glaube, er bedeutet so viel wie ›allein oder auch einsam‹.« Er drehte sich zu Mark um und lächelte zufrieden. »Das ist wirklich ein Wunderjunger Mann.«
Und Mark lauschte. Er hörte, wie sich das Murmeln und die Rufe aus der Menge mit der Musik zu vereinen schienen, sah, wie sich die dort unten Versammelten von den Sängern ab- und ihm wieder zuwandten und jubelten, spürte die alten Sterndeuter, die sich jetzt um ihn drängten und plötzlich ganz versessen darauf waren, die Hand ihres neuesten, ihres hellsten Sterns zu schütteln.
Erst viel später fiel ihm auf, dass der Graf und Mr Prendergast irgendwo in der Menge verschwunden waren.
KAPITEL 10
Das Lied
Eine halbe Stunde früher schüttete Lily auf der anderen Seite des Marktplatzes fünf runde weiße Pillen auf einen Tresen. »Reicht das?«, fragte sie.
Der Verkäufer musterte sie einen Augenblick und nickte dann. »Da Sie es sind, Miss Lily. Sie bringen immer Schmerzmittel von allerbester Qualität.«
Lily drückte geistesabwesend ihr Siegel auf den Vertrag. Selbstverständlich war sie übervorteilt worden. Theo hatte sie davor gewarnt, dass beim Fest alles doppelt so teuer sei wie gewöhnlich, und unter normalen Umständen hätte sie die ziemlich widerlich und unschön aussehenden Bonbons nicht gekauft, aber sie brauchte etwas, um sich abzulenken. Die elfte Stunde war bereits vorüber, und es gab immer noch keine Spur von ihnen. Zum fünfzigsten Mal ging sie die Formulierung des Briefes durch, versuchte sich zu erinnern, ob sie Anlass zu Ärgernis gegeben oder zu viel verraten hatte. Wenn einer von ihnen nicht auftauchte, war ihre ganze großartige Idee umsonst. Sie wünschte, sie hätte den Plan mit Theo besprechen können, aber der hatte alle Hände voll zu tun, damit sie einigermaßen über die Runden kamen. Allein jetzt hatte er zwölf Patienten zur Beobachtung im Keller. Abgesehen davon hätte sie es nicht ertragen, sein trauriges Lächeln zu sehen, während er ihr half, obwohl er sicher war, dass das, was sie da machte, eine verrückte Idee war.
Sogar Benedikta war nicht überzeugt gewesen, als Lily ihr von dem Plan erzählt hatte. Trotzdem hatte sie keinen Augenblick gezögert, als Lily sie um ihre Hilfe gebeten hatte, obwohl auch für sie ein Scheitern katastrophal sein würde. Lily wollte es nicht zugeben, aber in diesem Moment war Benediktas Vertrauen in sie alles, was sie davon abhielt, ihren Plan wieder zu verwerfen. Je länger sie dort stand, desto hoffnungsloser kam er ihr vor.
Nervös steckte sich Lily ein Bonbon in den Mund. Es schmeckte nicht viel anders als die Medizin, die sie am Morgen aus Flussgras zusammengemischt hatte, und schien mit etwas Klebrigem, entfernt Lebendigem gefüllt zu sein. Sie ging von der Bude weg, drängte sich durch die Menge der Feiernden, wobei sie an den Gerüchen und dem Krach des Marktes fast erstickt wäre. Verbissen schob sie sich an einem Haufen weggeworfener Blumen und abgerissener Fähnchen, die bereits unter
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