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Die Stadt der verkauften Traeume

Die Stadt der verkauften Traeume

Titel: Die Stadt der verkauften Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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Signor Sozinho. Da war es wieder, diesmal etwas lauter, ein Echo in seinen Worten, höher als seine eigentliche Stimme, fast weiblich. Wütend zog er ein Bündel Manuskripte aus seiner Tasche und wedelte damit vor Lilys Gesicht herum. »Diese Arbeit ist von Lord Ruthven persönlich in Auftrag gegeben worden, und ich soll sie um Punkt zwölf zur Aufführung bringen. Deshalb muss ich mich jetzt vorbereiten und mir die Noten noch einmal genau ansehen …«
    »Können Sie die nicht auswendig?«, fragte Lily nachdenklich. Ein verzweifelter Plan nahm in ihren Gedanken Gestalt an.
    Der große Sänger rümpfte die Nase. »Wenn einer jeden Tag komponiert, darf man nicht von ihm erwarten, dass er jede Note mit absoluter Sicherheit kennt, falls dich das überhaupt irgendetwas an … Was tust du da? Lass das los! Halt! Halt, du Diebin!«
    Aber Lily war bereits in der Menge untergetaucht. Das Manuskript hielt sie fest an die Brust gedrückt.
    »Nicht gerade mein allerbester Plan …«, keuchte sie, als sie weiterhastete. Schon hörte sie, wie sich die Eintreiber auf Signor Sozinhos entrüstete Schreie hin sammelten. Der Sänger kam hinter ihr her, doch das Gedränge war groß, und Lily konnte zwischen Menschen hindurchschlüpfen, die Sozinho beiseiteschieben musste. Vor sich sah sie die elegante Brücke zum Jungfrau-Bezirk, und dahinter, inmitten der Wolken, den Torbogen mit seiner Statue eines jungen Mädchens. Wenn sie nur so weit kam und sich vor den Eintreibern verstecken konnte, bis die anderen eintrafen, dann würde sie diesen Tag vielleicht doch nicht im Gefängnis beenden.
    Sie erreichte die Brücke, eilte keuchend die Stufen hinauf und riskierte einen Blick zurück. Eintreiber in ihren mitternachtsblauen Uniformen bahnten sich einen Weg durch die Menge, aber Signor Sozinho war noch näher. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung. Sie rannte weiter. Der Torbogen erhob sich jetzt fast über ihr. Sie blieb stehen und sah sich um.
    Eine Hand schloss sich um ihre Schulter.
    Lily erstarrte und drehte sich so langsam wie möglich um. Signor Sozinho sah sie grimmig an.
    »Ich werde dich nicht um meine Musik bitten, Mädchen«, sagte er erbost. »Ich möchte, dass die Eintreiber sehen, wie du sie in der Hand hältst, wenn sie hier eintreffen. Ich weiß nicht, was du damit bezweckst, aber es spielt auch keine Rolle. Du bekommst die höchstmögliche Strafe dafür, dass du mir meine Arbeit gestohlen hast.«
    Lily ließ den Kopf hängen und verfluchte sich und ihre Dummheit. So viel zu ihren großartigen Ideen. Dann bemerkte sie, dass etwas anderes Signor Sozinhos Aufmerksamkeit erregt hatte. Etwas hinter ihr.
    Ein Hoffnungsschimmer flackerte auf, doch sie wagte nicht, sich umzudrehen. Noch nicht.
    »Es ist lange her«, sagte Signor Sozinho mit tonloser Stimme, aber er sprach nicht mehr mit Lily, sondern mit jemandem hinter ihr. »Eine halbe Ewigkeit.«
    Lily lächelte, löste sich aus seinem jetzt kraftlosen Griff und drehte sich um.
    Im Schatten des Torbogens, die Augen niedergeschlagen und die Hände vor der Brust zusammengepresst, stand Signora Sozinho. Neben ihr, halb versteckt hinter ihrer Herrin, stand Benedikta. Lily ging mit einem ermutigenden Lächeln auf sie zu, und Benedikta nickte zurück, richtete den Blick aber sofort wieder auf Signor Sozinho.
    Langsam und vorsichtig bewegte sich der große Sänger auf seine einstige Ehefrau zu. Im Schutz des Torbogens hatte die Signora am Rande des allgemeinen Lärms und der Unruhe eine Zuflucht gefunden. Sogar die Eintreiber schienen, wie Lily erfreut feststellte, ohne die richtungsweisenden Rufe des Signors die Spur verloren zu haben. Nichts, nicht einmal ein Windhauch, zwängte sich zwischen das Paar. Schließlich hob der Signor hochmütig eine Augenbraue.
    »Wie eigenartig, dich in der Begleitung von Mädchen zu sehen. Ich dachte, junge Männer seien eher nach deinem Geschmack.«
    Lily zuckte zusammen. Die Signora trat vor, ihre Hände gestikulierten beredt, nur ihr Mund bewegte sich tonlos.
    »Sie sagt, es habe immer nur einen jungen Mann für sie gegeben«, übersetzte Benedikta kleinlaut.
    Signor Sozinho schnaubte. »Das hat dein Anwalt damals deutlich genug erklärt.« Er sah sich um. »Was ist denn aus ihm geworden?«
    Signora Sozinho machte noch mehr Zeichen. Benedikta wartete einen Moment, ehe sie mit einem wehmütigen Lächeln weiter übersetzte: »Er wurde alt. Wir haben noch immer zusammen gesungen, aber die Musik war verschwunden.« Die Signora hob den Blick, um in die

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