Die Stadt der verkauften Traeume
Musik, wurde pompös und erhaben. Mark sah sich nach einer neuen Partnerin für den nächsten Tanz um.
»Was für ein bezauberndes Fest, Mr Mark.«
Eine Frau mittleren Alters, die ihr ergrauendes Haar streng zu einer eleganten Hochsteckfrisur gekämmt hatte, ergriff seine Hand. Auf ihrer Nase saß eine einfache Augenmaske, die nur wenig von ihrem Ausdruck höflicher Entschlossenheit verdeckte. Normalerweise forderten die Herren die Damen zum Tanz auf, aber ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er sie, sollte er sie nicht um den nächsten Tanz bitten, sehr kränken würde. Somit kam eine Missachtung ihres Wunsches nicht in Frage.
»Ich danke Ihnen«, sagte Mark, verneigte sich, um zu verbergen, wie wenig ihm ihr Griff behagte. »Hätten Sie Lust auf einen Tanz, Miss …?«
»Sie sind mir ja ein Charmeur«, erwiderte sie mit einem melancholischen Lächeln. »Ich bin keine Miss. Ich bin Oberin Angelina.«
In Marks Kopf fing es an zu schwirren. Sie war einer seiner Ehrengäste. Also riss er sich zusammen, stellte sich mit den anderen Männern auf, das Gesicht seiner Partnerin zugewandt, und schickte sich an, im Takt der Musik um sie herumzuschreiten.
»Es ist mir eine Ehre«, sagte Mark in einem missglückten Versuch, lässig zu klingen. »Wie ich höre, sind Ihre Waisenhäuser …«
»Sammelstellen für zukünftige Arbeitskräfte«, verbesserte ihn die Oberin.
»… die erfolgreichsten in der ganzen Stadt«, fuhr Mark fort. Zumindest diese Schmeichelei war nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt.
»Welch nette Worte vom Wunderkind der Sterndeutergilde«, erwiderte Angelina und streckte die Hand aus, um mit dem Paar neben ihnen einen Stern aus vier Tänzern zu bilden. »Sie sollten uns wirklich einmal einen Besuch abstatten. Ich bin sicher, meine Tochter wäre entzückt, Sie kennen zu lernen …«
»Ich glaube, die beiden haben Geschäftliches zu besprechen, carrisimo .«
»An einem Abend wie diesem? Unmöglich!«
Die Stimmen des Paares, mit dem sie sich im Tanz zusammengefunden hatten, mischten sich in ihr Gespräch. Mark sah auf und erblickte Signor Sozinho, der ein verschmitztes Lächeln im Gesicht hatte. Seine Frau lachte.
»Vielleicht interessiert sich die Oberin heute Abend für mehr als nur das Geschäft?«, merkte sie mit einem listigen Zwinkern an.
Mark zuckte zusammen. Schon bei seinem letzten Fest war er von diesem Paar in stundenlange Gespräche verwickelt worden. Nicht dass er ihnen ihr Glück missgönnt hätte, aber sie schienen fest entschlossen, es allen immer wieder zu zeigen. Im nächsten Moment kamen sie auf ihr Lieblingsthema zu sprechen: Lilys Almosenhaus. Als er sah, dass Oberin Angelinas Gesicht einen Ausdruck frostiger Höflichkeit annahm, blickte er sich rasch auf der Tanzfläche um. Das wiederum rief ihm in Erinnerung, dass Lily, falls sie wirklich kommen sollte, eigentlich schon längst hier sein müsste.
Der Stern löste sich in einem Strudel von Röcken auf. Mit einer raschen Verbeugung wechselte Mark die Partnerin, und die Oberin wurde davongetragen, noch immer Signor Sozinhos gnadenloser Begeisterung ausgeliefert. Mark drehte sich zu seiner neuen Partnerin um – und blieb wie angewurzelt stehen.
Der Schnitter stand direkt vor ihm.
Mark wich einen Schritt zurück, prallte mit einer anderen Reihe zusammen, die Tänzer zerstreuten sich um ihn herum.
Mit einem Mal war er nicht mehr der erfolgreiche junge Geschäftsmann, das strahlende Wunderkind. Jetzt war er plötzlich nur noch ein dreizehnjähriger Junge, der mit den eingesunkenen schwarzen Augen und dem ausdruckslosen Gesicht aus seiner Erinnerung konfrontiert war. Einer Erinnerung, die er seither möglichst weit von sich gewiesen hatte.
Die Gestalt trat vor. Irgendetwas stimmte nicht. Sie war kleiner als in seiner Erinnerung.
Dann zog sie ihr Gesicht ab.
»Lange nicht gesehen, was, Mark?«, sagte Lily.
KAPITEL 14
Das Geheimnis
Lily kam zu dem Schluss, dass Mark sich gar nicht verändert hatte.
Natürlich war er gewachsen. Sein schmutzig blondes Haar war gekämmt und sauber, und seine teure Kleidung passte besser zu seiner pompösen Feier als die verschlissenen Sachen, die er getragen hatte, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Vor seinem Aufstieg. Als Laud ihn ihr gezeigt hatte, war sie nicht sicher, ob diese selbstbewusste, elegante Gestalt sie überhaupt erkennen würde.
Aber sobald sie ihm in die Augen schaute, sah sie sofort wieder den verängstigten kleinen Jungen, dem sie das Lesen
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