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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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hatte.
    »Sie sind dort draußen«, sagte ich.
    »Wer?«
    »Sie können lügen. Vielleicht können sie mir auch beibringen zu lügen.«
    »Du redest unvernünftiges Zeug, Jack. Ich wünschte, du würdest kein unvernünftiges Zeug reden.«
    Jetzt war alles klar. »Helen, ich werde einer von ihnen werden – ich werde ein Schwindler werden.« Ich zog die Hand zurück und hinterließ den Abdruck meiner Handfläche auf dem Glas wie das Firmenzeichen eines Wahrsagers. »Und dann werde ich Toby davon überzeugen, daß er eine Chance hat.«
    »Ich glaube nicht, daß das eine sehr gute Idee ist.«
    »Irgendwie haben sie das Gebranntwerden überwunden. Und wenn sie das können, dann kann ich es auch.«
    Helen nahm den Zahnstocher aus dem Martiniglas und schob sich die Oliven in den Mund. »In zwei Wochen wird Tobys Haar anfangen auszufallen. Ganz bestimmt wird er fragen, was das zu bedeuten hat.«
    Zwei Wochen. War das die ganze Zeit, die mir zur Verfügung stand? »Ich werde ihm sagen: ›Das bedeutet gar n… n… nichts.‹ Eine ganz gewöhnliche Krankheit, werde ich ihm sagen. Eine Krankheit, die sich leicht behandeln läßt.«
    »Jack – tu das nicht!«
    Nur zwei Wochen. Schwache vierzehn Tage.
    Ich rannte in die Küche und riß den Telefonhörer hoch. Ich muß dich unbedingt sehen, würde ich ihr sagen. Es geht nicht um Sex, Martina.
    610-400.
    Ich ließ dreimal klingeln, dann ertönte ein fernes Klicken, unheilvoll und hohl. »Der Anschluß, den Sie gewählt haben«, erklärte die aufgezeichnete Ansage in strengem, grabesernstem Ton, »ist außer Betrieb.« Meine Eingeweide wurden so hart und kalt wie ein Gletscher. »Wahrscheinlich ist die Rechnung nicht bezahlt«, fuhr die Stimme vom Band fort. »Wir sperren die Leitung in solchen Fällen ziemlich schnell.«
    »Außer Betrieb«, sagte ich zu Helen.
    »Gut«, antwortete sie.
    7, Glanzlose Straße, Bezirk Descartes.
    Helen kippte den Rest ihres Martinis hinunter. »Jetzt laß uns diesen lächerlichen Gedanken vergessen«, sagte sie. »Finden wir uns mit der Zukunft ab, voller Ehrlichkeit, mit klarem Kopf und…«
    Doch ich war bereits aus der Tür.
     
    Die Glanzlose Straße, die entlang des Sterbenden Flusses verlief, war durch Gerüche von Leben erfüllt: Speichelauswurf, Vogelkot, Schwefel, Methan, verfaulende Fische – eine Kakophonie von Gestank drang durch die Hülle meines Adäquats. »Und im Zentrum meiner Einstellung gegen die Abtreibung«, drang die düstere Pfarrersstimme aus meinem Autoradio, »steht natürlich mein Glaube, daß Sex ohnehin eine grundsätzlich verabscheuungswürdige Angelegenheit ist.« Dies war das freieste Viertel der Stadt, ein Durcheinander aus ehemaligen Fischmärkten und verlassenen Lagerhäusern, aneinandergestapelt wie tote Zellen, die darauf warteten, abgeworfen zu werden. »Man kann sogar sagen, daß ich, wie viele meiner Sorte, eine instinktive Abscheu vor dem menschlichen Körper empfinde.«

    Und plötzlich war ich da, vor der Nummer 7, einer Wellblech-Bruchbude, auf einem Bündel von Säulen errichtet, die aus dem Sterbenden Fluß ragten wie todkranke Bäume. Möwen kreisten in der Sommerluft und ließen ihre unschuldigen Exkremente auf die Mole fallen; Wasser klatschte gegen den vertäuten Rumpf eines Hausbootes, die Durchschnittliche Josephine – ein gieriges, schlurfendes Geräusch, als ob eine Meute unsichtbarer Löwen dort trinken würde. Ich steuerte den Wagen an den Rand.
    Eine Reihe schmaler, abgeknickter Laufplanken führte von dem nächsten Pier, der aussah wie ein Gleitbrett aus dem Kabinett des Dr. Caligari – eine meiner denkwürdigsten Ausflüge in die Filmkritik – hinauf und schließlich auf die Plattform vor Martinas Tür. Ich stieg hinauf. Ich klopfte. Nichts. Ich klopfte noch einmal, heftiger. Die Tür glitt auf.
    Ich rief: »Martina?«
    Der Ort war ausgeräumt worden, geleert wie der Hobs Hase, dessen Foto ich am Morgen in Prendergorsts Büro gesehen hatte. Der Eingangsflur enthielt eine verbeulte Bierdose, eine Mausefalle mit verschimmeltem Cheddarkäse als Köder, einige Zigarettenkippen – und sonst nichts. Ich ging in die Küche. Im Spülbecken stand eine übelriechende Brühe aus Wasser, Seife, Fett und Cornflakes. Die Regale waren leer.
    »Martina? Martina?«
    Im hinteren Raum lag eine nackte Bettauflage aus rostigen Metallfedern auf einem Kiefernholzrahmen, der so schief war, daß er aus Tobys Werkstatt hätte stammen können.
    Ich kehrte ins heiße, grelle Tageslicht zurück und blieb auf dem

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