Die Stadt der Wahrheit
ein Immobilienmakler oder ein Bezirksabgeordneter absahnt. Welche Branche?«
»Kunstkritiker.«
»Ich muß unbedingt aus dem Muschelgeschäft aussteigen. Ich muß eigentlich ganz raus aus Veritas – ein Traum, den ich ziemlich gern mit jemandem teilen würde, der nicht bei der Brutalotruppe ist. Dies ist ein großer Planet, Jack. Eines Tages werde ich einfach den Anker lichten, und – wusch – weg bin ich.«
Der Schreck und die Empörung, die ich bei derart abartigen Vorstellungen hätte empfinden müssen, blieben aus. »Boris, glaubst du an Wunder?« fragte ich.
»Es gibt Zeiten, da glaube ich an nichts anderes. Wie schmeckt dir die Muschelsuppe?«
»Ausgezeichnet.«
»Das wußte ich.«
»Möchtest du noch etwas?«
»Klar.«
»Ich weiß nicht, wie du jemals entkommen willst«, sagte ich. »Die Truppe würde dich erschießen.«
»Wahrscheinlich.« Mein Gastgeber nahm einen großen Löffelvoll von seiner hervorragenden Suppe. »Wenigstens wäre ich dann aus den Muscheln raus.«
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4
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Montag: wieder am Arbeitsplatz, mein Fleisch wie Blei, mein Blut wie flüssiges Quecksilber. Ich hatte die vergangene Woche eingesperrt in dem winzigen Vorführraum des Wittgensteins verbracht, um die Früchte von Hollywoods glücklichen Zeiten zu durchwühlen und den Verdacht der Archäologen zu bestätigen, daß diese erzählerischen Machwerke keinen Funken Wahrheit enthielten, und nun war es Zeit, sie zu vernichten: Du sollst mein Glücksstern sein, Doktor Schiwago, Rocky, den ganzen betrügerischen Kram. Stunde folgte um Stunde, ein Tag verschmolz mit dem nächsten, aber an meiner Routine änderte sich nichts: ich füllte die Badewannen, tauchte die 35-mm-Negative ein und beobachtete den Sieg von Clorox über die Illusion. Wie Seelen, die ihre Körper verlassen, schwebte die Technicolor-Schicht frei über ihrer Unterlage und löste sich in der kräftigen, reinigenden Bleiche auf.
Mein Herz war nicht bei der Sache. Cohn, Warner, Mayer, Thalberg, Selznick – diese Männer waren nicht meine Feinde. Im Gegenteil, ich wäre gern wie sie gewesen, ich wollte sie sein. Was immer man gegen die großen Macher von Hollywood sagen mochte, sie alle hätten ihre kranken Kinder mit heilsamer Ermutigung und therapeutischer Verlogenheit segnen können.
Stanley Marcus blieb bis Donnerstag weg, als er plötzlich in meiner Kaffeezelle erschien, während ich gerade lustlos einen Thunfisch-Sandwich verzehrte und erfolglos versuchte, meinen Kummer in Koffein zu ertränken. Ohne ein Wort nahm er seinen Besen und kehrte mit langsamen, grämlichen Bewegungen den Boden.
»Dieses Empfehlungsschreiben war ziemlich gemein«, sagte er schließlich, in der Julihitze schwitzend. »Ich wünschte, Sie hätten mich nicht als speichelleckerisch bezeichnet.«
»Hatte ich die Wahl?«
»Ich bin nicht befördert worden.«
»Es fällt mir nicht leicht, Mitleid mit Ihnen zu haben«, sagte ich, den Mund voll Thunfisch, Mayonnaise und Brot der Sorte Anständiger Roggenlaib. »Ich habe einen kranken Sohn. Nur Lügen können ihn heilen.«
Stanley rammte seinen Besen gegen den Boden. »Sehen Sie, ich bin eine lächerliche Gestalt, wir alle wissen das. Frauen wollen nichts mit mir zu tun haben. Ich führe ein einsames Leben. Erzählen Sie mir nichts über Ihr Familienleben, Mr. Sperry. Erzählen Sie mir nichts über Ihren mißratenen Sohn.«
Ich erblaßte und zitterte. »Lecken Sie mich im übertragenen Sinne am Arsch, Stanley Marcus!«
»Lecken Sie mich im übertragenen Sinne am Arsch, Jack Sperry!« Er drückte sich den Besen an den Busen, machte auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus.
Ich trank meinen Kaffee aus und beschloß, noch einmal welchen zu machen, wofür ich die doppelte Menge Pulver aus meinem Glas mit Donaldsons Trinkbarem nahm.
Ich ging wieder in mein Arbeitszimmer, wo noch ein Regal voller 35-mm-Spulen auf meine Durchsicht wartete, ein Zelluloid-Turm, der buchstäblich bis zur Decke reichte. Während Donaldsons Trinkbarer durch meine Nerven hüpfte – sozusagen –, krempelte ich die Ärmel hoch und machte mich an die Arbeit. Ich löste Das zauberhafte Land und Vom Winde verweht auf, entblößte Citizen Kane und King Kong bis aufs Azetat, säuberte die Welt von Top Hat, Opernball und – wie marktschreierisch kann Heuchelei werden? – Ist das Leben nicht schön?.
Die Feierabendpfeife ertönte, und ein halbes Dutzend dampfiger Echos hallte durch das ganze Wittgenstein. Als der letzte Schrei verklungen war, erklang ein
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