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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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am Empfang hinter seiner Theke hervor. »Er ist dort drin, Sie sind hier draußen. Er scheint wichtig zu sein, Sie nicht. Er läßt sie warten – Sie warten. Die ganze Szene ist so angelegt, um sie zu demütigen.«
    Ich tat grunzend meine Zustimmung kund. Helen sagte nichts.
    Eine Tür öffnete sich. Ein kleiner, beleibter, zwiebeläugiger Mann in einem weißen Laborkittel kam heraus, begleitet von einem Paar in den Fünfzigern – einer schwabbelige Frau in einem häßlichen beigefarbenen Kleid und ihr ebenso fetter, ebenso unförmiger Ehemann: zerknitterte Golfmütze, viel zu großes Polyester-Polohemd, ausgebeulte Cordhose; sie sahen aus wie ein Paar Bücherstützen, die beim Flohmarkt übriggeblieben waren. »Mehr als das kann ich Ihnen nicht sagen«, verkündete Prendergorst ihnen mit gedämpfter, lauwarmer Stimme. »Ein Hickman-Katheter ist zu diesem Zeitpunkt der beste Schritt.«
    »Sie ist unser einziges Kind«, jammerte die Frau.
    »Leukämie ist ein harter Brocken«, sagte Prendergorst.
    »Sollten Sie nicht eingehendere Untersuchungen anstellen?« fragte der Ehemann.
    »Vom medizinischen Standpunkt aus – nein. Aber wenn es Ihnen ein besseres Gefühl gibt…«
    Das Ehepaar tauschte knappe, schmerzerfüllte Blicke. »Nein, würde es nicht«, sagte die Frau und schlurfte davon.
    »Stimmt«, bestätigte der Mann und folgte ihr.
    Kurz darauf befanden wir uns in Prendergorsts Büro. Helen und ich saßen auf Klappstühlen aus Metall, während der Doktor sich standesgemäß hinter einem gigantischen Schreibtisch aus eingelegtem Kirschbaumholz niedergelassen hatte. »Würden Sie Ihr Gemüt gern mit etwas Zucker versüßen?« fragte er und bot uns eine Kiste mit Bonbons an.
    »Nein«, sagte Helen tonlos.
    »Ich nehme an, der erste Schritt besteht darin, die Diagnose zu bestätigen, richtig?« sagte ich, während ich mir eine Praline aus dunkler Schokolade schnappte. Ich biß durch die äußere Hülle. Weinbrand tröpfelte mir in die Kehle.
    »Wenn Ihr Sohn aus dem Lager zurückkehrt, werde ich eine nichtssagende Blutprobe entnehmen«, sagte Prendergorst und schob einen offenen Aktenordner über seinen Schreibtisch. Unter Tobys Name war ein häßliches Foto des dahingeschiedenen Hasen unter die Innenseite des vorderen Umschlags geschoben worden; sein Körper war durch die Autopsie auf ein Fell mit Eingeweiden reduziert worden. »Das Muster, das man uns geschickt hat, war gespickt mit Viren«, sagte der Doktor. »Die Chance, daß Toby nicht infiziert ist, dürfte eins zu einer Million sein.« Er schlug die Akte mit einer schwungvollen Handbewegung zu und ließ sie in die oberste Schublade seines Schreibtischs gleiten. »Daß ein Kaninchen Ihr Kind umbringt, ist einigermaßen absurd, finden Sie nicht? Eine Schlange wäre sinnvoller, oder eine Spinne der Art Schwarze Witwe, selbst eine jener giftigen Kröten – mir, fällt nicht ein, wie sie heißen. Aber ein Kaninchen…«
    »Mit was für einer Therapie haben wir es also zu tun?« fragte ich. »Ich hoffe, sie ist nicht allzu kräftezehrend.«
    »Wir haben es mit überhaupt keiner Therapie zu tun, Mr. Sperry. Im besten Falle können wir die Schmerzen Ihres Sohnes bis zu seinem Tod lindern.«
    »Toby ist erst sieben Jahre alt«, sagte ich, als ob ich ein Rechtsanwalt wäre, der einen Gouverneur um Gnade für seinen minderjährigen Klienten bat. »Er ist erst sieben Jahre alt.«
    »Ich glaube, ich werde dieses verdammte Lager verklagen«, zischte Helen.
    »Sie würden verlieren«, sagte Prendergorst und reichte ihr eine dicke Broschüre mit weißen Buchstaben auf schwarzem Papier. DIE XAVIERSCHE SEUCHE UND VERWANDTE SYNDROME – GANZ SCHLECHTE AUSSICHTEN. »Ich wünschte, mir würde einfallen, wie diese Kröten heißen.«
    Hätte mein Gehirnbrand mir nicht alle Sentimentalität und kitschige Gefühlsduselei ausgetrieben, hätte er meinen Tränenfluß nicht ausgetrocknet, dann hätte ich in diesem Augenblick hemmungslos geweint. Statt dessen tat ich etwas beinah so Ungewöhnliches. »Dr. Prendergorst«, begann ich, und meine Hände zitterten in meinem Schoß wie zwei frierende Taranteln, »ich gehe wohl recht in der Annahme, daß aus Ihrer Sicht die Chancen unseres Sohnes gleich Null sind.«
    »Genau.«
    Ich legte die Computerausdrucke auf Prendergorsts Schreibtisch. »Sehen Sie sich das an; über zwanzig Artikel aus Das Holistische Gesundheits-Bulletin, dazu das vollständige Protokoll der Achten Jahreskonferenz über Psychoneuroimmunologie sowie Die Gesammelten

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