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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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von geheimnisvollen verstümmelten Leichen auf meiner Bahn hinterlassen; ausgezupfte Barthaare, abgerissene Ohren, vom Rumpf getrennte und in den Mund der Tiere gesteckte Schwänze.
    Totales Schweigen. Kein einziges Wort.
    Wir betraten den Aufzug, drückten auf 30. Die Kabine setzte sich mit einem plötzlichen Ruck in Bewegung und sauste hinauf, wie ein Perlentaucher, der der Luft zustrebt: zweiter Stock, siebter, zwölfter…
    »Wie fühlst du dich?« fragte ich schließlich.
    »Nicht gut«, antwortete Helen.
    »Nicht gut – ist das alles? Nicht gut – ich fühle mich schrecklich.«
    »In meinem Fall wäre ›schrecklich‹ nicht das der Wahrheit entsprechende Wort.«
    »Ich fühle mich verknotet und verdreht. Als wäre ich ein Handschuh, und jemand hätte mein Inneres nach außen gestülpt« – eine Klingel ertönte, und über uns leuchtete die Zahl 30 auf – »und meine lebenswichtigen Organe, mein Herz und meine Lunge, sie sind nackt und…«
    »Du hast zu viele dieser Gedichte gelesen, die du vernichtest.«
    »Ich hasse deine Kälte, Helen.«
    »Du haßt meine Aufrichtigkeit.«
    Ich trat aus der Kabine und schritt durch den Flur. Phantasie-Dialoge suchten meinen Geist heim – geisterhafte Worte, gespenstische Vokabeln, Szenen aus einer unerträglichen Zukunft.
    – Dad, was sind das für Beulen unter meinen Armen?
    – Geschwollene Lymphknoten, Toby.
    – Bin ich krank, Dad?
    – Kränker, als du dir vorstellen kannst. Du hast die Xaviersche Seuche.
    – Werde ich wieder gesund?
    – Nein.
    – Wird es mir wieder wärmer werden?
    – Nein.
    – Werde ich sterben?
    – Ja.
    – Was geschieht, wenn man stirbt, Dad? Wacht man woanders wieder auf?
    – Es gibt keinen objektiven Beweis für ein Leben nach dem Tod, und anekdotische Berichte aus dem Himmel können nicht von Wunschdenken, Selbsttäuschung und den Auswirkungen des Sauerstoffverlustes auf das Gehirn unterschieden werden.
    Die Wohnung hatte sich gegen mich verschworen. Überall waren Echos von Toby, sie hatten das Wohnzimmer befallen wie das Virus, das sich jetzt in seinen Zellen vervielfältigte – ein Kinderstiefel, ein Dutzend verstreuter Spielsteine, eine Miniatur-Kreuzritterburg aus Balsaholz, die er am Tag vor seiner Abreise ins Lager gebaut hatte. »Wie gefällt sie dir, Dad?« hatte er gefragt, während er den letzten Turm an seinen Platz brachte. »Ich finde sie eher häßlich«, antwortete ich und zuckte bei der Wahrheit schmerzhaft zusammen. »Sie ist ziemlich krumm und schief«, fügte ich hinzu, während ich traurig die Tränen bemerkte, mit denen sich die Augen meines Sohnes füllten.
    An der gegenüberliegenden Wand winkte mir das Panoramafenster zu. Ich ging über den teppichfreien Boden und drückte die Handflächen gegen das Glas. Kilometerweit entfernt leuchtete ein Neonzeichen auf der Spitze der Kathedrale am Galileo-Platz. ANGENOMMEN, GOTT EXISTIERT DANN KÖNNTE JESUS SEIN SOHN GEWESEN SEIN.
    Helen ging zur Bar und bereitete sich einen Dry Martini, den sie mit vier schaschlikartig auf einen Zahnstocher gespießten Oliven würzte. »Ich wünschte, unser Sohn müßte nicht sterben«, sagte sie. »Das ist mein ganz ehrlicher Wunsch.«
    Ein seltsamer, unmöglicher Satz formte sich auf meiner Zunge. »Was auch geschieht, Toby wird die Wahrheit nicht erfahren.«
    »Hm?«
    »Du hast gehört, was Prendergorst gesagt hat – im Alptraum-Bereich zapfen die todgeweihten Patienten manchmal die natürlichen Heilkräfte ihres Körpers an. Es ist alles eine Frage der Einstellung. Wenn Toby glaubt, daß Hoffnung besteht, dann klingt die Krankheit vielleicht ab.«
    »Aber es besteht keine Hoffnung.«
    »Vielleicht doch.«
    »Nein.«
    »Ich werde zu ihm gehen und sagen: ›Junge, die Ärzte werden dich bald… die Ärzte werden dich in den nächsten Tagen… sie werden dich h… h…‹«
    Heilen – doch statt dessen schaltete sich meine Konditionierung ein, mit einem Pochen wie von einem Vorschlaghammer im Schädel und einem heißen Krampf in der Brust.
    »Ich kenne die Welt, Jack. Hör auf, dir etwas vorzumachen. Es ist unzivilisiert, so daherzureden.« Helen nippte an ihrem Martini. »Möchtest du auch einen?«
    »Nein.«
    Ich vertiefte mich in den Anblick des Metropolis-Panoramas mit seinen leuchtenden Türmen und glitzernden Wolkenkratzern, die sich in eine dunstige, Sternenlose Nacht erhoben. In meinem verwirrten Gehirn nahm ein Plan Gestalt an, der so faßbar war wie nur irgendeine der Skulpturen, die ich je am Wittgenstein vernichtet

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