Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
Vorplatz von Martinas Behausung stehen. Eine Welle von Übelkeit durchflutete mich, bis hinein in meine mutmaßliche Seele.
    Draußen auf dem Fluß drehte ein Kutter der Brutalotruppe zu einem Außenbordmotorboot bei, in dem zwei Männer in grünen Ponchos saßen. Offensichtlich versuchten sie zu fliehen – jedes Paradies hat seine Dissidenten, jedes Utopia seine Abtrünnigen –, eine Absicht, die unverzüglich dadurch vereitelt wurde, daß eine Maschinengewehrsalve von dem Kutter losbrach und die beiden Flüchtigen auf der Stelle tötete. Ihre Leichen fielen in den Sterbenden Fluß und färbten ihn rot wie mit Markierungsstiften. Ich empfand einen kurzen Anflug von gelindem Mitleid. Solche Narren! Wußten sie denn nicht, daß für die meisten Vorhaben und eine Vielzahl von Zwecken Veritas so gut war, wie man es nur erwarten konnte?
    »Einige Leute…«
    Ich wandte den Blick zur Mole. Ein großer, außergewöhnlich dürrer Mann in den Vierzigern in hüfthohen Stiefeln und einem zerlumpten weißen Sweatshirt stand auf dem Vorderdeck der Durchschnittlichen Josephine.
    »… sind so naiv«, fuhr er fort. »Stellen Sie sich vor, sie haben versucht, am hellichten Tag abzuhauen.« Er griff durch ein Loch seines Sweatshirts und kratzte sich an der behaarten Brust. »Ihre Freundin ist weg.«
    »Sprechen Sie von Martina Coventry?« fragte ich.
    »Hm-hm.«
    »Sie ist nicht meine Freundin.«
    »Diese kleine Fotze – Pars pro toto – schuldet mir zweihundert Dollar Miete.«
    Ich stieg über das Labyrinth von Laufplanken hinab. »Sind Sie ihr Hauswirt?«
    »Mister, in meinem verhunzten Leben habe ich drei Dinge von Wert erworben – dieses Hausboot, diese Bruchbude und meinen guten Namen.« Martinas Hauswirt stampfte mit dem Stiefel auf das Schiffsdeck. Er hatte einen außergewöhnlich wirren und ungepflegten Bart, wie Vogelnest, das auf Ausschreibungsbasis gebaut worden war. »Wissen Sie, wieviel der Stellvertretende Geschäftsführer einer Firma normalerweise in einem Monat verdient? Zwölftausend. Ich kann froh sein, wenn ich das in einem Jahr sehe. Die Muschelbuddelei ist ein leidvolles Geschäft.«
    »Muschelbuddelei?«
    »Na ja, vom Vermieten einer verdammten Bruchbude kann man nicht leben, das steht fest«, sagte Martinas Hauswirt. »Vom Muschelbuddeln natürlich auch nicht. Sind Sie von der Brutalotruppe? Wird die Coventry gesucht?«
    »Ich bin nicht von der Truppe.«
    »Gut.«
    »Aber ich muß sie finden. Es geht um Leben und Tod.« Ich ging auf einen Meter an den Hauswirt heran. Er roch wie Schildkrötennahrung. »Könnten Sie mir vielleicht irgendwelche Hinweise geben?«
    »Eigentlich nicht. Wollen Sie etwas Muschelsuppe? Ich habe sie eigenhändig rausgekratzt.«
    »Sie scheinen eine höchst unhygienische Person zu sein. Wie soll ich wissen, daß ich von Ihrer Suppe nicht krank werde?«
    Er lächelte und enthüllte einen bedenklichen Mangel an Zähnen. »Sie werden das Risiko eingehen müssen.«
    Und so landete ich schließlich in der gemütlichen Kombüse der Durchschnittlichen Josephine und genoß die köstlichste Muschelsuppe, die ich je gegessen hatte.
    Sein Name war Boris – Boris der Muschelbuddler –, und er wußte beinahe ebenso wenig über Martina wie ich. Sie waren einmal miteinander ins Bett gegangen, anstatt der Miete. Anschließend hatte er einige ihrer Knittelverse gelesen und sie kaum passend gefunden, um damit einen Außenabort auszustatten. Offenbar war ihr ein Job in Aussicht gestellt worden, bei dem sie Grußkarten-Verse für Widerlich und Spröde hätte schreiben sollen: die Firma hatte nicht Wort gehalten; ihr war das Geld ausgegangen; sie war in Panik geraten und hatte sich aus dem Staub gemacht.
    »Es geht um Leben und Tod«, murmelte Boris. »›Leben und Tod‹ hast du gesagt, und ich erkenne an deinen traurigen Knopfaugen, die ein klein wenig glasig sind, ein geringfügiger Makel in deinem einigermaßen gutaussehenden Gesicht – ich erkenne, daß du genau ›Leben und Tod‹ gemeint hast. Es ist eine schwere Last, die du da mit dir herumschleppst, etwas, über das du lieber nicht sprechen solltest. Aber keine Angst, Jack, ich verpetze dich nicht. Verstehst du, ich kann dich ganz gut leiden, auch wenn du wahrscheinlich einen Haufen Geld verdienst. Wieviel verdienst du?«
    Ich senkte den Blick auf meine Suppe, die dick war von Klumpen aus kernigem Muschelfleisch und Kartoffeln. »Zweitausend im Monat.«
    »Ich wußte es«, sagte Boris. »Natürlich ist das nichts verglichen mit dem, was

Weitere Kostenlose Bücher