Die Stadt der Wahrheit
vereinzelten rostenden Pullmanwaggons oder einem verrottenden Güterwagen. Wie verstohlen ich mich benahm, wie heimlichtuerisch – bereits wie ein Schwindler!
Ein Lokomotivschuppen erhob sich düster; seine Gleisscheibe lag wie ein riesiges Drehtablett vor dem Rangierbahnhof, dessen Hallen mit Platten aus rostendem Stahl verschweißt waren. Ein Dieselmotor zum Betreiben einer Weiche stand auf dem nächsten Gleis und buckelte in der feuchten Sommerluft wie die fossilisierten Überreste eines postindustriellen Dinosauriers.
Martina trommelte gegen die Tür – in einem schnellen, scharfen Rhythmus –, und ein großer, teufelsbärtiger Mann öffnete; seine ausgezehrten Gesichtszüge wirkten durch das Dämmerlicht weicher. »Ich bin Spartakus, gekommen, um die Sklaven zu befreien«, erklärte sie ihm – offenbar ein Geheimcode. Ich zuckte bei dieser Lüge zusammen.
»Hereinspaziert, tapferer Thrazier«, antwortete er und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen.
Ich schlich mich nach hinten und tastete mich an den rußgeschwärzten, rostfleckigen Mauern entlang. Ein hohes, offenes Fenster winkte mir zu. Jetzt handelte ich ganz instinktiv, indem ich den handlichsten Müll aufeinanderstapelte (Essigfaß, Apfelkiste, Fünfundfünzig-Galonen- Trommel) und hinaufkletterte wie der Held einer Cinemascope-Illusion. Ich erreichte das Fensterbrett und spähte hinein.
Lügner – überall Lügner. Es waren mehr als vierhundert, die miteinander plauderten, wobei sie Kerosinlaternen in den Händen hielten, zwischen den leeren Gleisen herumwandelten und allmählich auf ein notdürftiges Podium zuströmten, das einige Meter über dem Boden auf Stelzen schwebte. Die Frauen waren aufreizend angezogen, in tief ausgeschnittenen, paillettenbesetzten Blusen und glitzernden Stretchhosen, wie die Tanzmädchen aus einem Fred-Astaire-Film. Martina paßte gut dazu. Die Aufmachung der Männer war ähnlich asozial. Sie trugen Fräcke mit weißen Handschuhen; Umhänge und Reithosen; lavendelfarbene Anzüge, die von Zuhältern gestohlen hätten sein können.
Ein stämmiger Mann in einem geckenhaften Anzug stieg die Stufen des Podiums hinauf, ein batteriebetriebenes Megaphon in der Hand. »Setzt euch, alle!« rief er einen elektrisch verstärkten Befehl.
Die Menge wurde stiller. »Fang an, Sebastian!« schrie jemand von unten herauf.
Der Anführer der Lügner – Sebastian – stolzierte auf dem Podium hin und her und ließ ein Kürbislaternenlächeln aufblitzen. »Wie ist Schnee?« rief er.
Ich konzentrierte mich auf Martina. »Schnee ist heiß!« kreischte sie gemeinsam mit ihresgleichen.
Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meinem Bauch aus. Ich schloß die Augen und sprang in dicke, kreosotbeladene Luft.
»Wer jagt Katzen?« fragte Sebastian.
»Ratten jagen Katzen!« antworteten die Lügner im Chor – der gewaltige Schrei übertönte das Klatschen meiner Stiefel beim Aufprall auf dem Boden des Depots. Ratten jagen Katzen: Gott. Mein Unbehagen nahm zu, Übelkeit stieg aus meinem Innern auf. Ich lehnte mich an ein vernietetes Gitter; mein Körper war durch den Schatten getarnt, meine Schritte wurden vom Getöse der Menge übertönt.
»Jetzt«, sagte Sebastian, »zur Sache…«
Allmählich verging die Übelkeit, und ich war fähig, dem Ablauf, der sich mir darbot, zu folgen.
Die Schwindler – so erfuhr ich schnell – planten einen weiteren Angriff auf Veritas’ inneren Frieden. Für einen erstaunlichen, aufrüttelnden Nachmittag würden sie jenen Vorgang Wiederaufleben lassen, den Sebastian als ›das verschwundene und wundervolle Fest, das als Weihnachten bekannt ist‹ bezeichnete. Alles war ihnen anscheinend recht, um die Stadt zu demoralisieren, um sie von innen zu verderben. Um vierzehn Uhr am 25. Dezember, wenn der Umsicht-Park voller Familien war, die sich einen angenehmen Nachmittag mit Schlittschuhlaufen auf dem Ententeich machten und heiße Schokolade an Freudenfeuern tranken, würden die Lügner zuschlagen. Als Engel, Elfen, Kobolde und Feen verkleidet würden sie in den Park strömen und ihn mit Schneezäunen absperren, wobei sie heimlich ein Dutzend Geiseln nehmen würden, um der Polizei das Eingreifen zu erschweren. Als nächstes würden Sebastians Kräfte einen sogenannten Weihnachtsbaum am nördlichen Ufer des Weihers aufstellen – eine schottische Kiefer, so groß wie eine Windmühle – und sofort Veritas’ vermutlich mit Ehrfurcht erfüllte Kinder auffordern, ihn mit Glaskugeln und Lametta zu schmücken. Dann,
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