Die Stadt der Wahrheit
wie die Belästigung durch ein Marshmallow. Wir knutschten und fummelten, grapschten und rauften, knufften und tasteten.
Meine Genitalien, um Martinas Wort zu gebrauchen, hätten genausogut auf dem Mond sein können, so kühl blieben sie. Ich sagte: »Martina, ich weiß, warum du die Verse unbedingt haben willst.«
»Ach?«
Ein eisiges Beben erschütterte sie, das Zittern ihrer Schuld. »Du willst sie, weil das Papier durchsiebt ist von Lügen«, sagte ich. Die Haut straffte sich über ihren Knochen. »Du bist eine Schwindlerin.«
»Nein«, widersprach sie energisch und wühlte sich aus meiner Umarmung heraus.
»Wie schaffst du es, die Konditionierung außer Kraft zu setzen?« fragte ich beharrlich.
Sie stand auf. »Ich bin keine.«
»Du hast geschrieben, du hättest Flügel. Du hast etwas über eine Seele geschrieben.« Ich strampelte mich auf die Beine und drückte ihre weiche Rubens-Hand. »Mein Sohn bedeutet mir sehr viel. Ich empfinde sogar Liebe für ihn. Er ist noch ein kleiner Junge. Hast du jemals von der Xavierschen Seuche gehört? Er darf die Wahrheit nicht erfahren. Wenn er nicht weiß, daß sie tödlich ist, dann kommt er vielleicht davon oder…«
Sie rannte zur Tür, als ob sie einem Akt des mutmaßlichen Gottes entfliehen wollte, einem Waldbrand, einer Flutwelle, einem Wirbelsturm. »Du hast in mir die Falsche erwischt!« schrie sie und schob den Riegel mit Wucht zurück.
»Ich werde dich nicht an die Brutalotruppe verraten – ich verspreche es. Bitte, Martina, bring mir bei, wie man es macht.«
Sie riß die Tür auf und rannte in die heiße Abenddämmerung hinaus. »Ich sage nur die Wahrheit.«
»Lügner!«
Schwitzend und zitternd stieg sie mühsam in ihren glänzenden Toyota Praktikus und fuhr rückwärts aus dem Parkplatz hinaus. Ihr gummiweiches Gesicht war blutleer. Ihre Augen glitzerten vor Angst. Martina Coventry, eine Schwindlerin. O ja, wahrere Worte waren niemals gesprochen worden.
Sie wird nicht entkommen, gelobte ich im stillen und formte die Hände zu jener gefährlichsten aller Haltungen und hinterhältigsten aller Gesten. Gott ist mein Zeuge, fügte ich hinzu und nickte dabei in Richtung des ehemaligen großartigen Vom Winde verweht.
Der Himmel antwortete mir mit einem Verkehrsstau, der ganzen Herrlichkeit des veritasianischen Feierabendverkehrs. Ich versenkte mich in seine dichte, kreischende Tiefe und schlängelte mich zwischen Fußgängern hindurch wie ein Skifahrer auf einer Slalomstrecke, ohne Martinas Praktikus jemals aus den Augen zu lassen. Sie schlich über die Voltaire-Allee, bog nach Osten in die Flußgasse ab. Als sie die Brücke erreichte, war der Verkehr vollkommen zum Stillstand gekommen, wie eine Welle geschmolzener Lava, die am Hang eines Vulkans erstarrt.
Sie steuerte den Wagen in eine Parklücke, bediente die Parkuhr und verschwand in einer zwielichtig aussehenden Grill-Bar mit dem Namen Dollys Verdauliches.
An der Kreuzung Schopenhauer-Allee stand ein öffentliches Telefon. Es funktionierte einwandfrei. Im Zeitalter der Lügen, so hatte ich gehört, waren Telefonzellen ein beliebtes Ziel für kriminelles Verhalten gewesen.
Ich sagte Helen, daß ich zum Abendessen nicht nach Hause kommen würde. »Ich bin einer Schwindlerin auf der Spur«, erklärte ich.
»Dieser Coventry?«
»Ja.« Ich spähte durch das verschmierte Fenster der Bar. Martina saß im hinteren Teil; sie nippte an einem Glas Olgas OK-Orangensaft und aß eine ermordete Kuh.
Helen fragte: »Hast du Sex mit ihr gehabt?«
»Nein.« Ein schwacher, aber nicht zu leugnender Schmerz durchzuckte meine Schläfen. »Wir haben uns geküßt.«
»Auf die Lippen?«
»Ja. Wir haben uns auch umarmt.«
»Komm nach Hause, Jack.«
»Nicht bevor ich einer von ihnen bin.«
»Jack!«
Klick. Ich stand im silbernen, schwefeligen Regen und wartete.
Vor Ablauf einer Stunde verließ Martina Dollys Verdauliches und machte sich zu Fuß auf den Weg in östliche Richtung, in die dämmerige Tiefe des Bezirks Nietzsche. Nietzsche war einst der brodelnde Kessel der Veritas-Waggon-Gesellschaft gewesen, eines Unternehmens, das während seiner Blütezeit die Pendel-Verbindung sowohl für Frachtgut als auch für Menschen zur Metropolis unterhielt; vor einiger Zeit war es Opfer der Umwälzung im privaten Transportwesen geworden und hatte sich in eine dünn besiedelte, träge urbane Mondlandschaft verwandelt. Ich folgte Martina bis zu einem Bahndepot, dessen Gleise jetzt verlassen dalagen, abgesehen von einigen
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