Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
könnten großartige Freunde werden«, sagte er.
    Martina war auffälliger herausgeputzt denn je. Sie hatte ihr terrakottafarbenes Haar zu einem bildhauerischen Gegenstand verarbeitet, einem dicken Zopf, der wie ein Laib Osterbrot auf ihrer Schulter lag. Ihre Augen waren zu Karikaturen ihrer selbst geworden, mit fetter Umrandung und üppigem Lidschatten. »Obwohl wir hier in Satirev sind, bin ich Veritasianerin genug, um offen mit dir zu sprechen. Ich habe dich aus dem Schlamassel gerettet, Jack. Du bist am Leben, weil die gute alte Martina Coventry deinen Fall im Eisenbahnschuppen vorgetragen und sich für dich eingesetzt hat.«
    »Ich bin dir dankbar«, sagte ich.
    »Das solltest du auch sein.«
    »Hast du ihnen von Toby erzählt?«
    Sie nickte. »Ja, und ich muß sagen, die Geschichte war auf Anhieb ein Erfolg. Ein von der Xavierschen Krankheit befallendes Kind, das um jeden Preis gerettet werden soll – du machst dir keine Vorstellung, welche überzeugende Wirkung eine solche Situation hier unten hat.«
    »Das Ganze ist so unglaublich rührend«, sagte Franz. »Ein Vater, der um das Leben seines Sohnes kämpft – meine Güte, ist das rührend.«
    »Könnt ihr mir beibringen zu lügen?«
    »Kommt darauf an«, antwortete Martina.
    »Worauf?«
    »Darauf, ob du ins Programm aufgenommen wirst – ob die Behandlung anschlägt. Nicht jeder hat das Zeug, ein Schwindler zu werden.«
    »Wenn es nach mir ginge, würde ich dich aufnehmen« – Franz schnippte mit den Fingern – »und zwar so.«
    »Leider geht es nicht nach uns«, sagte Martina. »Du wirst etwas Glück nötig haben.« Sie griff in ihre glitzernde Handtasche und holte ausgerechnet ein Hufeisen hervor. Sie öffnete die Schublade meines Nachtkastens und ließ es – plop – hineinfallen. »Pferde haben sechs Beine«, sagte sie mit dem Brustton der Überzeugung.
    Ich biß die Zähne zusammen. »Maskottchen sind Lügen«, entgegnete ich.
    »Vielleicht«, sagte Martina.
    »Ich habe gehört, du willst jemanden anrufen«, sagte Franz fröhlich. »Ich spreche im Namen der Inneren Sicherheit und muß dir in dieser Eigenschaft mitteilen, daß wir entzückt sind, dir diesen besonderen Wunsch zu erfüllen.«
    Franz und Martina halfen mir beim Aufstehen, was mir nur mühsam und unter Schmerzen gelang. Mir war nie bewußt gewesen, daß ich so viele verletzbare Muskeln, so viele angreifbare Knochen hatte. Endlich stand ich auf den Beinen, der kalte Boden knabberte an meinen nackten Füßen, mein sackförmiges und albern kurzes Krankenhausnachthemd kratzte am Körper.
    Das Zentrum für Schöpferisches Wohlbefinden war eine bescheidene Einrichtung. Nach einigen Schritten durch die Eingangshalle war eine Wand mit Fotografien von ausgelassenen spielenden Kindern geschmückt, die andere Seite war überladen mit Monets Gemälden von Wasserlilien, und plötzlich bewegten wir uns durch den Haupteingang hinaus in einen kleinen privaten Park. Graffiti bedeckten die glatten Backsteinmauern: JESUS LIEBT DICH… ALLES IST AUF SEINE WEISE SCHÖN… HEUTE IST DER ERSTE TAG DEINES RESTLICHEN LEBENS. Ich sah nach oben. Keine Sonne, keine Wolken – kein Himmel. Der gesamte Park war von einem Betonbogen überdacht, der an die gewölbte Kuppel einer Kathedrale erinnerte; drei Quecksilberdampf-Scheinwerfer hingen von der Decke, technologische Sonnen.
    »Wir befinden uns unter der Erde«, erklärte Martina, als sie die Verwirrung in meinem Gesichtsausdruck bemerkte. »Wir sind unter Veritas«, sagte sie und ließ den Zeigefinger nach oben zucken; ihre Nägel waren in leuchtendem Grün lackiert. »Bis jetzt haben wir nur etwa vierzigtausend Quadratmeter kolonialisiert, aber wir weiten uns ständig aus.«
    Dicht gedrängt und ringsum eingeschlossen – und doch rief der Park keine Klaustrophobie hervor. Tatsächlich hatte ich nie zuvor auf einem so beruhigenden und luftigen freien Platz gestanden. Es roch nach Tannenharz. Der allgegenwärtige Gesang von Vögeln prahlte mit der erfrischenden Feinheit einer Fuge. Schmetterlinge zeigten sich in einer Vielfalt von Arten, jede farbenprächtiger als die andere, und flatterten herum wie Stoffstücke, die versuchten, sich zu einem verrückten Flickenteppich zu vereinigen. Ein mit Kopfsteinen gepflasterter Fußweg schlängelte sich zwischen hübschen kleinen Beeten hindurch, die mit Zinnien, Gladiolen, Tulpen und Pfingstrosen bepflanzt waren.
    Martina sagte: »Wir werden natürlich niemals so groß werden wie Veritas. Aber darum geht es auch gar

Weitere Kostenlose Bücher