Die Stadt der Wahrheit
gegen Abend, würden die Schwindler eine Bühnenbearbeitung in drei Akten einer Charles-Dickens-Geschichte mit dem Titel Ein Weihnachtslied aufführen. Ich wußte alles über diese Geschichte, und nicht nur deshalb, weil ich ein Exemplar der Erstausgabe vor dem Verbrennen gelesen hatte. Ein Weihnachtslied war als eine der verlogensten Erzählungen aller Zeiten in die Geschichte eingegangen, eine sprachgewandte Darstellung der Lüge, daß die Bösen dazu gebracht werden können, die Fehler in ihrem Verhalten einzusehen.
Schließlich: der Höhepunkt. Ein Verladekran würde auf der Szene erscheinen, und plötzlich – siehe da – der gute alte Weihnachtsmann erscheint persönlich; in einem leuchtend roten Schlitten, ausgestattet mit acht audio-animatronisch gesteuerten Rentieren und vollgepackt mit Geschenken in glitzerndem Goldpapier, fährt er vom Himmel herab. Während sich die Kinder um ihn drängen – ihre Herzen vor Entzücken pochend, ihre Gesichter vor Fröhlichkeit glühend, ihre armen schutzlosen Seelen schwindelig vor Sinnestäuschung –, überschütten sie die Elfen mit den Dingen, von denen sie geträumt haben, mit Rollern und Zehngangfahrrädern, Puppenhäusern und elektrischen Eisenbahnen, Teddybären und Spielzeugsoldaten.
Sebastian hielt den roten Anzug, das Kissen und den falschen Bart hoch, die er als Weihnachtsmann zu tragen beabsichtigte, und in dem Lokomotivschuppen brach sofort ein donnernder Beifall los.
Ich betrachtete die Menge und erschauderte jedesmal, wenn mein Blick auf ein bekanntes Gesicht fiel. Du lieber Himmel: Jimmy Windig, der Barkeeper vom Suff am Morgen. Wer wäre bei ihm wohl auf die Idee gekommen, daß er ein Lügner sein könnte? Oder mein Installateur, Paul Irving. Oder mein Friseur, Bill Mumford?
Sebastian teilte seine Legionen in Spezialeinheiten für die notwendigen Aufgaben ein. Jimmy Windig kam zum Ausschmückungs-Komitee; meinem Installateur wurde die Rolle des Ebenezer Scrooge zugeteilt; mein Friseur meldete sich freiwillig als Elf; Martina willigte ein, die Eröffnungsrede des Weihnachtsmannes zu schreiben.
Die abschließende Litanei traf mich unvorbereitet.
»Was können Hunde?« rief Sebastian unvermittelt.
»Sie können sprechen!« antwortete die Menge.
In meinem Schädel begann es zu pochen.
»Welche Farbe hat Gras?«
»Purpur!«
Das Pochen in meinem Schädel wurde stärker.
»Steine sind…«
»Lebendig!«
»Aufhören!« schrie ich und drückte mir die Hände an den Kopf. »Aufhören! Bitte, aufhören!«
Vierhundert Gesichter wandten sich mir zu. In achthundert Augen blitzten Wut und Empörung auf.
»Wer ist das?« fragte jemand.
»Ein Spion!« rief eine Stimme.
Eine andere: »Brutalotruppe!«
Eine andere: »Faßt ihn!«
Ich hob die ausgebreiteten Hände hoch. »Hört zu! Ich möchte mich euch anschließen!« Die Lügner stoben auf mich zu wie die Horden in dem eindrucksvollsten Renaissance-Ölgemälde, das ich während meiner Lehrzeit vernichtet hatte, Altdorfers Schlacht von Issus. »Ich möchte ein Schwindler werden.«
Eine ledrige Hand legte sich mir vor den Mund. Ich biß hinein und schmeckte das salzige Blut des Lügners. Ein Stiefel trat mich in die Seite und brach mir eine Rippe wie einen trockenen Zweig. Stöhnend, mich vor Angst windend, sank ich auf die Knie. Noch nie hatte ich diese reinste Wahrheit, diese absolute Tatsache, den Schmerz so deutlich empfunden.
Das letzte, was ich sah, bevor ich das Bewußtsein verlor, war die Faust meines Steuerberaters, die sich schnell auf mein Kinn zu bewegte.
Ich wachte auf und lebte noch. Ich lebte – mehr aber auch nicht. Meine Lippen fühlten sich an wie zwei dicke Schnecken, die auf meinen Mund aufgesetzt waren. Mein Rumpf, so schien es, war vor kurzem als Ball in einer üblen und gewalttätigen Sportbegegnung benutzt worden. Schmerz nagte an meiner Seite.
Allmählich schwand der klebrige Film von meinen Augen. Ich machte eine Bestandsaufnahme. Schaummatratze, Daunenkissen, der aufdringliche Geruch von medizinischem Alkohol. Meine Brust war mit Klebeband umwickelt, als wäre sie der Griff eines Baseballschlägers.
Eine Ärztin mittleren Alters in einem weißen Kittel machte sich neben mir zu schaffen; ein Stethoskop hing ihr um den Hals. »Guten Morgen«, sagte sie und meinte es offenbar auch so. Ein schmales, lebhaftes Gesicht – scharfgeschnittene Nase, kantiges Kinn, hohe Wangen: ein Gesicht, das zwar nicht schön war, doch wahrscheinlich immer eine gewisse Faszination auf
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