Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
versagt«, fährt er fort. »Aber vielleicht sollten wir ihr noch eine Chance geben. Keine Ahnung.«
Ich habe zwar das Graffito gesehen, aber noch nie jemanden so offen die Sinnhaftigkeit der Wissenschaft in Frage stellen gehört.
Ich stolpere über einen Spalt im Bürgersteig. Will fängt mich auf.
»Ich wünschte, du würdest besser aufpassen.« Sein Tonfall ist ernst, nicht mit diesem leisen Spott wie im Club.
Da ich ihm nicht versprechen kann, dass ich künftig besser aufpassen werde, erwidere ich nichts darauf. Eine Zeit lang herrscht Schweigen. »Ich wäre dir dankbar, wenn du niemandem etwas über mich und mein Leben erzählen würdest«, sagt er schließlich.
»Wem sollte ich etwas erzählen?«
»Deinen reichen Freunden. Oder anderen Clubmitgliedern. Sie können ziemlich unangenehm werden.«
»Inwiefern?«
»Im Hinblick auf anderer Leute Privatleben.«
Also bin ich nicht die Einzige, der aufgefallen ist, wie attraktiv er ist. Ich verspüre einen eifersüchtigen Stich, gefolgt von einem Anflug von Erregung. Ich weiß Dinge, die andere Mädchen nicht über ihn wissen, und er will, dass das auch so bleibt.
Inzwischen nähern wir uns der Grenze zwischen der Unter- und der Oberstadt. Bewaffnete Wachen säumen den Bürgersteig. Sie drehen sich zu uns um, doch da wir beide Masken tragen, gibt es keinen Anlass, uns aufzuhalten.
Die Gebäude in dieser Gegend sind feudaler, doch die meisten Geschäfte sind geschlossen, die Fenster vernagelt und die Regale leer. Kuriere hasten geschäftig umher. Reiche Familien haben sie angeheuert, um Botengänge zu erledigen, damit sie selbst ihre Häuser nicht zu verlassen brauchen.
»Hier wohne ich«, sage ich und deute auf das Hochhaus. Mutter sagt, die Akkadian Towers hätten eine Art Märchenbau werden sollen. Ursprünglich waren mehrere Türme vorgesehen, doch der zweite war gerade zur Hälfte fertig, als die Seuche ausbrach.
»Natürlich«, sagt er. »Je reicher man ist, umso größer soll der Abstand zum Boden sein, stimmt’s?« Wieder sieht er mich forschend an. »Aber du bist irgendwie anders.«
Ich bin anders. Ich war nicht immer reich. Ich weiß, was es bedeutet, Hunger und Angst zu haben. Aber ich habe nie jemandem etwas von dieser Zeit erzählt, über die Angst, den Hunger und darüber, dass ich mich bis heute im Dunkeln fürchte.
Ich habe nie jemandem von dem Tag erzählt, als mein Zwillingsbruder starb. Aber ich glaube, Will könnte ich es erzählen.
Wir bleiben vor dem Eingang stehen. Der Wachmann mustert Will mit gerunzelter Stirn. Ich vermeide den Blickkontakt und hoffe, dass er nicht herüberkommt.
Will beugt sich vor, nimmt seine Maske ab und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich bin froh, dass ich derjenige war, der dich diesmal gerettet hat«, flüstert er.
Als ich den Ausdruck in seinen dunklen Augen sehe, frage ich mich, was wohl passieren würde, wenn mein Mund nicht hinter dieser Maske verborgen wäre. Ich zwinge mich, an meinen Schwur zu denken, niemals einen anderen Menschen zu küssen. Ich wende kurz den Blick ab, und als ich wieder hinsehe, lächelt er.
Einen Moment lang sieht es so aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann blickt er an der Fassade hoch, setzt seine Maske auf und geht.
Der Wachmann tritt näher. »Miss Worth?«
»Ja?« Ich stehe immer noch wie angewurzelt da und sehe Will nach.
»Bitte gestatten Sie mir, Sie zum Aufzug zu begleiten.«
Die Akkadian Towers besitzen den einzigen funktionierenden Fahrstuhl in der ganzen Stadt. Im Handumdrehen bin ich oben. Was soll ich meinen Eltern erzählen? Wie soll ich auf ihre Vorwürfe und ihre Sorge um mich reagieren?
Von unserem Kurier ist weit und breit nichts zu sehen, als ich in den Flur trete, doch die Tür ist unverschlossen. Ich trete ein. Niemand kommt herbeigelaufen, um mich zu begrüßen oder zu fragen, wo ich gesteckt habe.
Schließlich öffne ich die Schiebetür zu Vaters Labor. Er beugt sich über eines seiner Experimente. Inzwischen ist sein Haar schlohweiß, dabei dachte ich vor ein paar Wochen, ich hätte noch ein paar graue Strähnen gesehen. Aber vielleicht liegt es ja auch am Licht.
»Vater?«
»Lass mich das hier nur noch kurz aufschreiben. Eine Sekunde.« Er hat gar nicht richtig mitbekommen, dass ich da bin.
»Kannst du mir sagen, wie man eine Maske kauft?«
Blinzelnd dreht er sich zu mir um. »Erinnerst du dich an die Fabrik in der Oak Street, wo früher Munition hergestellt wurde? Dort werden sie gefertigt.«
»Und wie kann ich eine
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