Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
an, der Geruch war widerlich, auch wenn ich ihn nicht zuordnen konnte. Ich sah das Entsetzen auf Vaters Zügen nicht, stelle es mir aber oft vor. Damals war mir nicht klar, dass ich die Maske für den Rest meines Lebens tagtäglich würde tragen müssen. Die Form wurde noch einmal verändert, bevor sie in die Großproduktion gehen konnte, und ich besitze das erste Exemplar inzwischen nicht mehr. Allein ihr Anblick wäre unerträglich für mich.
Was wäre passiert, wenn Finn die Maske als Erster anprobiert hätte? Schließlich war sie für ihn gemacht worden.
Henry schnappt sich das Puzzleteilchen, nach dem Elise greifen wollte. Sie versucht es zu fassen, aber er ist schneller. Sie lachen.
Wenn Elise die Maske trägt, wird sie geschützter sein. Sie beide werden geschützter sein. Aber bei der Vorstellung, dass ihr kleiner Bruder keine Maske tragen darf, überläuft mich ein eisiger Schauder.
Will kommt in seiner Arbeitskleidung aus dem Schlafzimmer. Mir wird bewusst, dass er sich nicht mehr hingelegt hat. Er bringt mich nach Hause, und dann geht er in den Club, wo er die ganze Nacht arbeiten wird, obwohl er nur wenige Stunden geschlafen hat. Ich würde mich gern bei ihm entschuldigen oder mich zumindest bedanken, finde aber nicht die richtigen Worte.
Wir bringen die Kinder nach unten zu seiner Nachbarin. An der Tür geht er in die Hocke und küsst die beiden. Ich spüre den Kloß, der sich in meiner Kehle gebildet hat, und muss für einen Moment den Blick abwenden.
»Seid brav«, ermahnt er sie.
»Wir schlafen doch sowieso«, gibt Elise mit ernster Miene zurück.
»Tja, dann schlaft mal schön.«
Als die Tür aufgeht, kommen die Kinder noch einmal zu mir gelaufen und umarmen mich. Erstaunt registriere ich, wie fest sie mich umklammern.
»Es wird Zeit«, sagt Will.
»Komm uns doch morgen besuchen«, bettelt Elise, während Will sich vorbeugt, um ihre mageren Ärmchen von meinem Hals zu lösen, und sie mit einem leichten Schubs zur Tür hineinschiebt.
Er setzt seine Maske auf, dann treten wir nach draußen.
Die Schatten werden länger, als wir durch die Straßen gehen. Ich bin nicht daran gewöhnt, ihn mit Maske zu sehen, und es gefällt mir überhaupt nicht.
Das Haus, in dem er wohnt, ist aus Ziegel und sieht genauso aus wie all die anderen – vier Stockwerke, eine hölzerne Eingangstür und mit Decken verhängte Fenster. Ein einsames Bäumchen steht direkt vor der Tür.
Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass zwei Menschen in dieser Gegend durch die Straßen gehen. Will und ich gehen so dicht nebeneinanderher, dass sich unsere Arme bei jedem Schritt berühren. Ich war noch nie zu Fuß in der Unterstadt unterwegs.
»Halt deine Tasche fest, damit sie dir niemand aus der Hand reißt«, ermahnt er mich.
»Ist es weit?«
»Ja, aber eindeutig angenehmer, als dich durch die Straßen zu tragen.«
Wäre ich April, ginge mir eine kesse Erwiderung über die Lippen. Und selbst die Araby, die mit Glitzer-Wimpern und rot geschminkten Lippen abends in den Club geht, könnte irgendetwas Geistreiches sagen. Doch ich starre nur verlegen auf meine Schuhspitzen, während wir schweigend unseren Weg fortsetzen.
In diesem Viertel gibt es mehr Graffiti und kaputte Fensterscheiben, als ich sonst zu sehen bekomme. An vielen Türen prangt die rote Sense. Einige sind mit weißer Farbe übertüncht, trotzdem schimmert das Symbol für die Ansteckungsgefahr hindurch.
Mir fällt auf, dass an manchen Fenstern rote Fahnen mit einer schwarzen Sense hängen, aber ich weiß nicht, was sie bedeuten. Ich halte mich dicht neben Will.
Mehr als einmal müssen wir durch getrocknete Blutflecke treten. Trotzdem hat jemand am Gehsteigrand Blumen gepflanzt, und es gibt sogar ein paar Bäume. Wir kommen an einer verwaisten Rasenfläche mit einem verwitterten Schild ÖFFENTLICHE PARKANLAGE vorbei. Früher sind die Leute gern in Parks gegangen, und manche tun es bestimmt auch heute noch.
Ich wende den Blick ab, als wir an einem schwarzen Karren vorbeikommen. Die Leichensammler sind heute schon früh unterwegs.
Auf einem Gebäude vor uns prangt eine Parole in riesigen schwarzen Buchstaben. NIEDER MIT DER WISSENSCHAFT. BESINNT EUCH AUF GOTT .
»Was für ein Blödsinn«, sage ich, dankbar, nach dem ernüchternden Anblick des Leichenkarrens etwas anderes sehen zu dürfen.
»Aber die Wissenschaft hat doch versagt«, wendet Will ein. Seine Worte schockieren mich. Die Wissenschaft soll versagt haben? Sie hat uns gerettet. »Die Religion hat genauso
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