Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
oberen Stockwerk holen und ihm bringen. Es gibt Gerüchte über die Männer, die dieses Stockwerk bewohnen. Ich habe in der Vergangenheit merkwürdige Geräusche von dort oben gehört, einmal sogar einen Schrei, obwohl April behauptet, sie hätte nichts mitbekommen. Ich verspreche Elliott, das Buch zu besorgen. Ich bin fest entschlossen, ihm gegenüber keine Schwäche zu zeigen.
»Du musst aber dafür sorgen, dass es niemand sieht«, ermahnt er mich. »Keiner darf mitbekommen, dass du das Buch hast. Und falls dich jemand anspricht, tust du einfach so, als hättest du dich verlaufen.«
Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt einen Ton herausbekomme, wenn mich jemand ansprechen sollte.
Gerade als wir in den Schatten eines hohen Gebäudes tauchen, rumpelt die Kutsche über etwas hinweg. Elliott reißt das Steuer herum und hat Mühe, nicht die Kontrolle über das Gefährt zu verlieren. Ich werde gegen ihn geschleudert. Wieder legt er mir den Arm um die Schultern, um mich vor dem Aufprall zu schützen, als er selbst herumgeworfen wird und mit dem Gesicht gegen die Kutschwand knallt.
Erschrocken schnappe ich nach Luft. Ich kann nur hoffen, dass seine Maske keinen Schaden genommen hat.
Ich werfe einen Blick über die Schulter. »Haben wir jemanden überfahren?«
»Nein, ich glaube nicht«, antwortet er. »Dafür war das Hindernis zu flach. Ich glaube nicht, dass es ein Mensch war.« Seine Stimme zittert leicht. »Wir sollten lieber nicht stehen bleiben.«
»Aber wir müssen doch nachsehen, was das war«, beharre ich. »Wir sollten erst weiterfahren, wenn wir sicher sind, dass wir niemanden überfahren haben.«
»Gut.«
Vielleicht war es nur ein Schatten. Andererseits haben wir beide deutlich gespürt, dass wir über etwas hinweggerollt sind. Elliott fährt zurück, zieht seinen Säbel, steigt aus und wirft einen Blick auf das dunkle Etwas.
Mit der Klinge hebt er einen Ärmel an. Ich unterdrücke einen Schrei.
»Ein Umhang«, sagt er tonlos. Etwas fällt zwischen den Stofffalten heraus auf den Boden. Er steigt aus und reicht mir zwei Gegenstände. Der erste ist ein Kruzifix. Staunend registriere ich sein Gewicht, als er es mir in die Hand drückt. Bei dem anderen Gegenstand handelt es sich um einen Reptilienschädel. Als ich danach greife, reiße ich mir an einem der scharfen Zähne den Finger auf.
Eine dünne Blutspur rinnt über meine Hand.
»Krokodilszähne in einem Krokodilsmaul.« Er steigt wieder in die Kutsche. »Das Kreuz ist einiges wert. Mal sehen, ob jemand auftaucht, um es sich zurückzuholen.«
Ich halte den Schädel in die Höhe und blicke in die tiefen leeren Augenhöhlen.
»Was nützt eine Botschaft, wenn wir sie nicht interpretieren können?«, murmelt er.
»Vielleicht ist es ja gar keine Botschaft. Müssen die Gegenstände denn zwangsläufig einen tieferen Sinn haben?«
»Nicht unbedingt«, sagt er, »aber ich gehe davon aus.«
Er legt die Hände an seine Maske und versucht sie geradezurücken.
»Ich hasse diese Dinger.«
»April hat erzählt, dass du dich geweigert hast, eine zu tragen.« Sie hat ihn als Revoluzzer-Poeten bezeichnet. Bislang habe ich lediglich den Revoluzzer-Teil von ihm zu Gesicht bekommen.
»Ich hasse es, dass sie meinem Onkel so viel Macht verleihen. Über ein Jahr lang habe ich dagegen protestiert, indem ich keine getragen habe. Aber was wir vorhaben, ist zu wichtig, um ein so hohes Risiko einzugehen.«
Er startet die Kutsche, und wir fahren weiter.
»Eine Ansteckung zu riskieren, ist ziemlich dumm«, stelle ich fest. Ich mag die Masken genauso wenig. Niemand mag sie. Aber wir brauchen sie nun mal. Sie schützen uns vor der Ansteckung.
»Ich hatte mich eben so entschieden.« Er lässt den Blick über die Stadt schweifen. »Glaubst du nicht auch, dass die Leute es verdienen, ihre eigenen Entscheidungen treffen zu dürfen?«
Inzwischen haben wir die Unterstadt erreicht, und die Atmosphäre wird zusehends düsterer: Fenster, von außen vernagelt, von innen mit Decken verhängt. Die Quilts, die ich durch die Lücken in den Brettern erkennen kann, erinnern mich daran, dass ich Will gleich wiedersehen werde.
Mein Herzschlag beschleunigt sich.
»Natürlich finde ich es wichtig, seine eigenen Entscheidungen treffen zu können.«
»Gut.«
Elliott parkt die Kutsche. Wir steigen aus und treten in die kleine Seitengasse. Er öffnet die Tür und schiebt mich in den Club. Kaum fällt sie hinter ihm ins Schloss, reißt er sich die Maske herunter und schnappt nach Luft.
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