Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
darin, obwohl es nicht sonderlich warm ist, deshalb ziehe ich mir einen durchscheinenden langen Mantel an, unter dem meine Beine zu erkennen sind, und stecke Vaters Tagebuch ein.
Es würde mich nicht wundern, wenn Elliott am Fenster zum Garten stehen und mich beobachten würde, denke ich, als ich durch die Räume haste.
Als wir vorhin kamen, saß unser Kurier auf seinem Stuhl vor der Wohnung. Bestimmt lebt er in der Unterstadt, das heißt, er kann mich zumindest auf einem Teil des Wegs zu Wills Wohnung begleiten. Es wird mindestens noch eine Stunde hell sein, deshalb sollten Will und die Kinder noch zu Hause sein. Außerdem dürfen die beiden sowieso nie ins Freie. Der Kurier lächelt zögerlich, als ich aus der Tür trete.
»Haben meine Eltern eine Nachricht hinterlassen?«
»Ich war heute Morgen nicht hier. Sie haben mich noch einmal losgeschickt, um nach der Leiche der jungen Dame zu suchen.«
Ich erschaudere.
»Mussten Sie die Leichen auf den Karren … anfassen?« Ich kann mir die Frage nicht verkneifen. Der Gedanke an die grauenhaften schwarzen Leichenkarren mit den herabhängenden Armen und Beinen ist grauenhaft.
»Diejenigen, deren Gesichter man nicht sehen konnte, musste ich umdrehen. Es gab mehrere hübsch gekleidete junge Damen«, sagt er im Plauderton. Gilt so etwas heutzutage als nette Unterhaltung?
»Ist Ihnen, während Sie hier waren, irgendetwas Verdächtiges aufgefallen? Leute, die meinem Vater etwas antun wollen?«
Für den Bruchteil einer Sekunde flackert etwas in seinen Augen auf, ehe er den Kopf schüttelt. Was auch immer er mir vorenthält – es hilft mir, mich nicht ganz so mies zu fühlen, weil ich ihn belüge.
»Sie haben die Anweisung erteilt, dass Sie mich begleiten sollen. Ich muss in der Unterstadt etwas erledigen«, sage ich.
»In der Unterstadt?«, wiederholt er, als hätte er noch nie davon gehört.
»Sie leben doch dort, oder nicht?«
»Ja, schon, aber …«
»Sie können mich begleiten, dann wären Sie früh zu Hause. Ich glaube nicht, dass wir Ihre Dienste heute Abend noch benötigen werden.«
Er steht auf. »Und Sie sind sicher, dass Ihre Eltern die Erlaubnis gegeben haben, dass ich früher nach Hause gehe?« Er will mich nicht als Lügnerin bezeichnen, aber ich sehe ihm an, dass er mir kein Wort glaubt.
»Ja. Heute besteht Ihr Botengang darin, mich abzuliefern.« Ich ringe mir ein Lächeln ab, was sich als nicht ganz einfach entpuppt.
»Aber in der Unterstadt ist es gefährlich. Wenn uns jemand angreift, werde ich Sie nicht verteidigen können.«
»Es wird uns schon niemand angreifen«, gebe ich mit mehr Autorität zurück, als ich eigentlich habe, doch er scheint mir zu glauben.
Den Lederbeutel fest an mich gedrückt, haste ich die Treppe hinunter, durch die Lobby und zur Seitentür hinaus, dicht gefolgt von unserem Kurier. Die Straßen sind menschenleer, bis auf ein paar Arbeiter, die die Fassade der alten Oper säubern.
Im Vorbeigehen streiche ich über eine der goldenen Verzierungen. Die Farbe bleibt an meiner Fingerspitze haften. Jemand hat eine schwarze Sense auf eine der Seitenmauern gemalt, direkt über den noch feuchten Goldanstrich.
»Es heißt, der Prinz lässt vielleicht eine Oper inszenieren und zwingt die Leute, sie sich anzusehen.«
Das klingt nach etwas, was dem Prinzen ohne Weiteres zuzutrauen wäre. Oder nach einer Lüge, die Malcontent in Umlauf gebracht hat. Ich habe die Sitze in der Oper gesehen. Allein die Vorstellung, dass sich so viele Menschen in einem Raum aufhalten, wird die Panik schüren.
Wir setzen unseren Weg fort. Je weiter wir den bröckelnden Bürgersteig entlanggehen, umso verfallener werden die Häuser. Wir passieren problemlos die Grenze. Die Soldaten halten niemanden auf, der die Oberstadt verlassen will.
Hinter jedem der schmutzigen Fenster könnte sich ein unfreundliches Gesicht verbergen.
Vielleicht hat Elliott ja recht, und maskierte Gesichter haben tatsächlich etwas unmenschlich Finsteres an sich. Ein Mann steht in einem Türrahmen und macht eine obszöne Geste in meine Richtung.
Wir beschleunigen unsere Schritte.
Da sämtliche Pferde tot sind und es nur sehr wenige Dampfkutschen gibt, haben sich die Seitenstraßen in schmutzige Pfade zurückverwandelt. Die Gehsteige vor den höheren Gebäuden sind zwar in einem etwas besseren Zustand, trotzdem türmt sich auch hier der Unrat, der eine Flucht erschweren würde.
Ich halte nach mit Umhängen verhüllten Gestalten Ausschau, bemerke jedoch eine Gruppe junger
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