Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
abwendet. »Nicht in dieser Gegend.«
Auf dem Weg in den Park gehen die Kinder zwischen uns und kabbeln sich, wer den kostbaren Ball tragen darf. Sie werfen ihn sich gegenseitig zu und lachen, wenn er Henrys Maske trifft und zu Boden fällt.
»Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn er wirklich krank geworden wäre«, sagt Will und zögert. »Passiert es dir manchmal, dass du Leute hasst, wenn es ihren Angehörigen wieder besser geht?«
Die Frage schmerzt mich. Weil sie den Nagel auf den Kopf trifft. Ich habe die Leute stets gehasst, die ihre Brüder noch haben. Aber nicht Will. Die Vorstellung, Henry könnte sich mit der Seuche angesteckt haben, hat mir eine Heidenangst eingejagt.
»Ich habe dir die Maske mitgebracht«, sage ich nur.
»Ich wollte auch nicht andeuten, dass du nicht wolltest, dass es ihm wieder besser geht. Ich habe mitbekommen, wie du ihn gestern Abend angesehen hast.«
»Ich will nur nicht, dass jemand durchmachen muss, was ich durchgemacht habe«, sage ich.
»Wenn Henry sterben würde, hätte ich das Gefühl, ich hätte nicht richtig auf ihn aufgepasst. Aber du warst noch ein Kind. Du konntest nichts dafür.«
Ich zucke mit den Schultern; nicht, weil es mir egal ist, sondern weil ich die Tiefe meiner Schuldgefühle nicht in Worte fassen kann. Er weiß mehr über mich als jeder andere, aber trotzdem nicht alles.
»Finn würde nicht wollen, dass du dich selbst verleugnest.«
Es gefällt mir nicht, dass er so lässig über Finn spricht, als hätte er ihn gekannt. Meinen Schmerz mit jemandem zu teilen, mag gutgetan haben, trotzdem ist es immer noch mein Schmerz, den ich schon so lange mit mir herumtrage. Wie oft habe ich das Bewusstsein verloren, nur um nach einer Weile mit dem Muster der Bodenfliesen auf den Wangen wieder zu mir zu kommen?
»Ich habe alles falsch gemacht, oder?«, flüstere ich.
Er legt mir die Hand unters Kinn und mustert mich forschend mit seinen dunklen Augen. »Könntest du diese Maske nur für ein paar Minuten absetzen? Wir könnten versuchen, nicht zu atmen.«
Ich lege beide Hände an meine Maske, noch bevor er geendet hat.
Er hat seine Maske bereits abgenommen.
Er sieht mich genauso an, wie er es in der Düsternis des Clubs immer tut. Seine Augen sind halb geschlossen, und seine Bewegungen wirken träge. Wieder hebt er mein Kinn und sieht mich an. Es ist, als bleibe die Zeit stehen. Er schiebt seine Hände unter meinen Mantel und legt sie auf meine nackten Schultern.
Ich schließe die Augen.
»Araby!«
April. Eilig setzt Will seine Maske wieder auf. Er ist genauso schockiert wie ich. Ein derartiger Leichtsinn könnte tödliche Folgen haben. Mir stockt der Atem, und ich habe ein schlechtes Gewissen, als hätten wir etwas Verbotenes getan.
Die opulenteste Dampfkutsche der ganzen Stadt steht am Straßenrand. Aprils Dienstboten warten in makellos sauberen Livrees im Inneren, doch ich sehe auch ein paar Männer in der Uniform der Leibgarde des Prinzen.
April lächelt. Keine Ahnung, warum – weil sie mich aufgestöbert hat, oder weil ich drauf und dran war, Will zu küssen? Sie fand meinen Schwur immer schon idiotisch, auch wenn sie sich nie die Mühe gemacht hat, die Gründe dafür zu hinterfragen.
Das helle Tageslicht lässt die blauen Flecke auf ihren Wangen und ihrem Hals noch deutlicher hervortreten. Elliott tritt neben sie und kreuzt die Arme vor der Brust. Auf seinem Gesicht liegt der gewohnt gelangweilte Ausdruck, doch sein angespannter Kiefer entgeht mir nicht.
»Gott sei Dank, dass wir dich gefunden haben«, ruft April. »Wir haben dich überall gesucht. Elliott war außer sich vor Sorge.«
Elliott löst seine Arme und spielt mit seinem Gehstock herum.
»Jemand hätte sie entführt haben können«, sagt er. »Immerhin sind ihre Eltern verschwunden. Wir wussten ja nicht, wo sie steckt. Da macht man sich doch Sorgen.«
Ich weiß genau, dass er stocksauer ist, aber vor Will muss er den Coolen, Arroganten mimen. Er wird sich auf keinen Fall etwas anmerken lassen, was als Eifersucht ausgelegt werden könnte.
»Ich fasse es nicht, dass du mich im Stich gelassen hast, Araby. Ich wollte gestern Abend mit dir in den Club fahren, um meine Rückkehr zu feiern.« Aprils Fröhlichkeit wirkt etwas gezwungen, außerdem schwingt ein gehässiger Unterton in ihrer Stimme mit. »Ich habe es mit der Angst bekommen, als wir dich nicht finden konnten.« Dieser Satz ist aufrichtig gemeint. April hat tatsächlich Angst und versteckt sie hinter einer schnippischen
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