Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
ambitioniertes Filmprojekt stand uns bevor. Ich war eine Woche vor dem Regisseur und seiner Assistentin angereist. Noch bevor das gesamte Team vor Ort war, wollte ich im Stadtarchiv von Dubrovnik recherchieren. Den Produzenten überzeugte ich schnell. Es war auch ihm recht, dass ich mich noch einmal in Ruhe mit dem Drehbuch beschäftigte. Natürlich gab es eine solche Dringlichkeit nicht, das Ganze war eine reine Lüge. Der Produzent war aber einsichtig und bezahlte sowohl meine Reisekosten als auch meine Hotelrechnungen. In Wirklichkeit hatte ich aber ein Verhältnis mit einer aus Triest angereisten Frau, die Andrea Music hieß, ein Übermensch, eine Frau, die vor Sinnlichkeit aus allen Nähten zu platzen schien. Ich liebte sie sehr, ließ mir tausend Kosenamen für sie einfallen und vergaloppierte mich auch mit Formulierungen wie »mein anmutiges Luder«, weil sie mich einfach übermannte. Andrea war wie ein Apfel, sinnlich und prall – zum Anbeißen. Außerdem war sie verträumt und so lustvoll, dass man sie schon unersättlich, ja hungrig nennen musste. Sie studierte Slawistik in Belgrad und hatte eine slowenische Mutter, die aus Donja Furlanija kam. Wir erlebten zusammen einige Abenteuer in Serbien, eine recht vorzeigbare Orgie mit Priestern im Kloster Žiča war auch darunter. Die Orgie muss ich aber leider an dieser Stelle verschweigen, weil sie ein Geheimnis bleiben soll.
Wir küssten uns in der Hotelhalle oder an der Bar, schmiegten uns aneinander, beschnupperten uns wie Wilde, berührten uns wie Ausgehungerte und verschwanden dann immer wieder mal fluchtartig auf unser Zimmer. In der Zwischenzeit trafen im Hotel ältere Herren und einige wenige Damen mit schicken Frisuren ein. »Vielleicht werden hier Bridge-Meisterschaften ausgetragen«, sagte Andrea. Der Typ an der Bar erzählte uns von einem Kongress, der in unserem Hotel stattfinden sollte. Das Thema: »Für und Wider der alternativen Medizin«. Die Leute an der Rezeption bezeichneten die Ankunft der älteren Teilnehmer am Symposium als eine Invasion der Weißhaarigen. Sie dauerte bis zum Abend an und ging im gleichen Tempo vor sich wie die Ankunft der Flieger am Flughafen.
Wir verbrachten ein paar Stunden auf einer Terrasse, und obwohl der späte Herbst bereits in den Winter zu kippen schien, war es warm und angenehm. Wir saßen an der Bar und beobachteten die ameisenartig agierende Meute in der Halle, sahen uns die unterschiedlichen Typen an, redeten über ihre Anzüge, über den Gang, den sie an den Tag legten, und versuchten auf diese Weise, etwas über ihren Charakter und ihr Leben in Erfahrung zu bringen. »Schau dir mal den genauer an, der die ganze Zeit nervös an seiner Pfeife kaut«, sagte Andrea. »Der hat sich sein Leben lang zum Affen machen lassen. Seine Frau hat ihm Hörner aufgesetzt und ihn mit seinem besten Freund betrogen.«
Wir dachten uns Schicksale und Schicksalsverläufe dieser Menschen aus und fächerten einen Lebensentwurf an den anderen, und irgendwann fing auch ich an, etwas über mich und meine Familiengeschichte zu erzählen. »Vielleicht taucht ja mein Onkel hier auf«, sagte ich zu Andrea. Ich hatte ihn zwar nie zuvor gesehen, aber die ganze Stimmung im Hotel schien mir wie gemacht für eine solche Verabredung mit der Vergangenheit. Mein Onkel hätte bei diesem Symposium gut einen Vortrag über das Leben des berühmten Arztes Baglavija halten können, aber auch über dessen Heilungsmethode mit Musik, den Tanz der Tarantellen und den Biss der Giftspinne. Dann fingen Andrea und ich spontan an, nach einem Mann Ausschau zu halten, der um die sechsundsiebzig Jahre alt war, einen dunklen Teint und eine krumme Nase wie mein Vater hatte. Sobald wir jemanden ausfindig gemacht hatten, auf den all das passte, sagten wir laut den Namen meines Onkels. Wir fanden das sehr unterhaltsam. Erheitert lachten und witzelten wir immerfort, aber unsere Anrufungen zeitigten keinerlei Wirkung.
Am Abend gingen wir in eine Taverne. Wir wollten etwas essen, aber alle Tische waren belegt. Die Taverne war in einem hübschen alten Steinhäuschen untergebracht. Es bedeutete uns viel, dort den Abend zu verbringen, und obwohl es nicht gerade sinnvoll erschien, entschieden wir uns, an der Eingangstür auf einen freien Tisch zu warten. Wir beobachteten dabei die Gäste und hofften, jemand würde bald aufstehen und uns seinen Platz überlassen. Aber damit war nicht zu rechnen, die Weißhaarigen hatten hier überhaupt nichts anderes zu tun, als ausgiebig
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