Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
das Essen zu genießen. Sie stießen ständig mit ihren Weingläsern an und machten einander Komplimente in allen möglichen Sprachen. Der Chefkellner, den ich vom Sehen kannte, gab uns zu verstehen, dass es aussichtslos war zu warten, und verwies uns auf das Hotelrestaurant. Wir ignorierten seine Empfehlung und machten keinerlei Anstalten, uns von der Stelle zu rühren. In diesem Augenblick hörten wir eine übermäßig laute Stimme, die alle anderen im Raum übertönte. Sie gehörte zu einem in einer Ecke des Restaurants sitzenden Mann, der uns eifrig winkend zu sich rief. Er war in der Gesellschaft eines Kollegen, mit ihm speiste er und griff dabei immer wieder nach seinem Weinglas, um einen Schluck zu trinken. Beide hatten sich unter das Doppelkinn eine Serviette gesteckt. Ich schätzte ihr Alter auf siebzig Jahre. Der Kellner führte uns zum Tisch und der Mann sprach uns auf Italienisch an. »Wenn Sie wollen«, sagte er, »setzen Sie sich zu uns, hier sind noch zwei Plätze frei.«
Höflich lächelnd nahmen wir das Angebot an. Andrea sagte etwas Freundliches zu ihnen. Ihr natürlicher Charme kam bei unseren Tischnachbarn offensichtlich gut an.
Zwischen den beiden Männern lag ein dickes Buch. Ich war mir geradezu sicher, dass es sich um die Opera omnia von Gjure Baglivija handeln musste. Am liebsten hätte ich das Buch umgedreht, um zu sehen, wie es hieß, aber das Anfassen fremder Dinge hat noch nie einen guten Eindruck gemacht, also ließ ich es bleiben. Der Herr, der uns an den Tisch gerufen hatte, sah mir plötzlich in die Augen, ließ kurz, aber mit nachhaltiger Neugier seinen Blick auf mir ruhen, so als hätte er sich an etwas Bestimmtes erinnert oder mich wiedererkannt. Es ist mein Onkel, er muss es sein, dachte ich, da sitzt er und schaut mich aus der Tiefe der Vergangenheit an, mit diesen Augen, die, aus einem alten Zeitkanal kommend, in meine Gegenwart hineinreichen.
An diese verrückte Idee glaubte ich eigentlich selbst nicht wirklich, sagte mir aber, dass es sich vielleicht gerade deshalb um meinen Onkel handeln konnte, weil ich mich innerlich dagegen sträubte. Warum sollte er nicht einer der Teilnehmer am Symposium über Alternative Medizin sein? Es kam mir nun mehr als natürlich vor, dass mir diese Begegnung vorherbestimmt war. Mehr als achtundfünfzig Jahre waren seit seinem Fortgehen aus der Heimat vergangen, und wir hatten seitdem nie mehr ein Wort von ihm gehört. Alles, was ich damals in der Kindheit über ihn erfahren hatte, wurde in banalen Begriffen zusammengefasst, man sagte einmal über ihn, er sei reich geworden, dann wieder, er habe sich finanziell komplett ruiniert. Ein Gerücht hielt sich von allen am beharrlichsten, es hieß, er sei Mussolinis Leibarzt gewesen und habe allein deshalb nie nach Hause zurückkommen können. Dies erwies sich am Ende jedoch als haltlos.
Vor langer Zeit, als ich noch nicht einmal daran gedacht hatte, eine Familienchronik zu schreiben, fiel mir zufällig ein Artikel in die Hand, der in der Zeitschrift »La Voce« abgedruckt war. Der Dramatiker Paolo Turchini schreibt in diesem Text über seinen Vater und betont dessen adelige Herkunft. Er notiert, dieser habe hinter Gottes Rücken das Licht der Welt erblickt und sei ein Nachfahre des berühmten Dubrovniker Bürgers Baglavija, eines Mediziners von bester Reputation, der für ihn ein Vorbild gewesen sei. Sein Vater Blago Turchini, der den Namen seiner Mutter angenommen hatte, habe nie seine glorreichen Wurzeln von Ragusa vergessen. Das reichte mir schon, um mir Turchinis ragusanische Version auch für mich selbst ernsthaft durch den Kopf gehen zu lassen, und sei es auch auf Kosten meiner ganzen Ahnenreihe. Es konnte ja längst niemand mehr verletzt werden, die Menschen, um die es hierbei ging, waren ohnehin schon alle tot. Und von den Jüngeren wusste niemand mehr, dass es in unserer Familie solche Wahlverwandtschaften oder überhaupt ein derartiges Einzelschicksal gegeben hatte.
Nach dem Essen blieben die beiden Männer noch kurz mit uns am Tisch sitzen und tranken ihren Wein aus. Dann verabschiedeten wir uns herzlich voneinander, und Andrea bedankte sich noch einmal bei ihnen. Es gelang mir auch dabei leider nicht, einen Blick auf den Titel des Buches zu werfen. Bald verließen auch wir die Taverne, in der wir köstliche Meerdatteln in einer Tomaten-Knoblauch-Sauce und gebackenen Roten Drachenkopf mit Kartoffeln und Tintenfisch gegessen hatten. Eine Flasche Wein hatten wir auch getrunken und waren
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