Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
Vom Netzwerk:
heraus und stürmte mit ihr in Richtung des leeren Zuges. Ich war bereit, mit dem viel stärkeren Krämer zu kämpfen, um meine Gegenstände zurückzubekommen. Ich betrat den Waggon und schlich mich vorsichtig an das Coupé heran, in dem wir miteinander gerungen hatten, aber von Matan war weit und breit nichts mehr zu sehen, nur die feuchten Spuren seines Schweißes und seiner Spucke sah man noch auf der Holzbank. Ich kroch auf Knien auf dem dreckigen Boden umher, sah unter die Bänke, aber mein Wappen und die Glaskugel waren unauffindbar. Auch in den darauffolgenden Tagen fand ich den durchgeknallten Händler nicht, ich sah ihn nie wieder.
    Aus der Sache mit den Geschenken ist ein Unglück geworden, es sollte nicht sein, ich hatte weder meiner Mutter noch meiner Lehrerin eine Freude gemacht. Der ganze Tag war wie in einem Traum vergangen, und alles, was mir nur einige Stunden zuvor in Dubrovnik geschehen war, kam mir jetzt schon wie eine fremde Geschichte vor, die sich vor langer Zeit ereignet hatte. Ich ging nicht sofort nach Hause, ich suchte erst meine Freunde auf. Da ich immer alles mit ihnen teilte, zeigte ich ihnen auch die erotischen Karten, wir sahen sie uns genüsslich in einem Versteck hinter einem alten Gemäuer an. Es war eine große Aufregung für uns, wir lachten sogar, hatten aber Angst, dass man uns dabei erwischen würde. Überhaupt war ich ängstlich und besorgt, weil ich nun der Besitzer von etwas Verbotenem war. Wenn man mich erwischt hätte, wäre das auf etwas genauso beschämend Peinliches hinausgelaufen wie das Begrabschen einer Heiligen.
    Erst am Abend ging ich nach Hause, dort fand ich Vater vor, er war eine Stunde nach mir mit dem nächsten Zug gekommen, allerdings aus Montenegro, aus dem Städtchen L., in dem er die letzten fünf Tage verbracht hatte. Mutter und er saßen in der Weinstube, andere Gäste waren nicht da, eine schwächliche Glühbirne von fünfundzwanzig Watt konnte sie kaum erleuchten, und auf den Gesichtern meiner Eltern malten sich ein paar Schatten ab, die sie grob erscheinen ließen. Beide sahen besorgt aus und hatten sicher vor meiner Ankunft über die Schwierigkeiten gesprochen, die uns nun bevorstanden. Ich spürte das und setzte mich leise zu ihnen, machte Vater auch keinerlei Vorwürfe, wollte nicht wissen, wo er sich aufgehalten und getrunken hatte. Ich begriff in diesem Augenblick, dass es wichtigere Dinge als den Verlust meiner Gegenstände gab, ahnte, dass uns allen irgendetwas Schlimmes bevorstand und der neue Staat unser Schicksal schon bald verändern würde, ohne uns auch nur einzubeziehen oder uns danach zu fragen, was wir uns wünschten und was wir selbst dachten. Vor allem traf es Mutter und mich schwer, dass Vater im Falle einer staatlichen Enteignung schon am nächsten Tag Trebinje verlassen und nach Montenegro umziehen wollte, in ebenjenes Städtchen L., in dem er sich offenbar bereits eine Stelle als Referent im Forstamt beschafft und wo er eine Zweizimmerwohnung gefunden hatte. Mutter liebte Trebinje und unser Haus, mir ging es genauso wie ihr, obwohl ich eigentlich meinen Geburtsort L. noch mehr liebte, fortgehen wollte ich erst, sobald ich volljährig geworden wäre.
    Mutter versuchte, sich gegen Vaters Entscheidung aufzulehnen, und bat ihn, sich doch im Ort eine Arbeitsstelle zu suchen, damit wir hier, sagte sie, »wo man uns doch schon kennt, wo meine Mutter und unsere Ländereien sind« bleiben konnten. Sie versprach ihm auch, sich selbst eine Beschäftigung zu suchen, als Verkäuferin, sie habe ja Erfahrung, habe doch ein Händchen für die Bilanzen. Vater aber war nicht von seiner Idee abzubringen, denn er wollte in keinem Fall erlauben, dass man ihn auf eine so willkürliche Art in die Armut stieß, und er wollte auch nicht zulassen, dass sich jemand über seine Erniedrigung lustig machen konnte. »Wenn sie uns das Geschäft nicht wegnehmen, wenn sie mit den kleineren Händlern etwas gütiger umspringen als mit den Großen, dann bleiben wir hier und machen weiter wie bisher«, sagte er.
    Dieser Abend hat sich unwiderruflich in mein Gedächtnis gebrannt, weil wir alle drei die schwere Last dieser Lebenssituation fühlten. Die Sorgen drückten wie schwere Gewichte auf uns. Kurz bevor wir die Stube schlossen, kam meine Lehrerin vorbei, sie wollte sehen, ob ich zurückgekommen war und den Vater nach Hause gebracht hatte. Als sie uns alle drei am Tisch sitzen sah, war sie glücklich. Es gelang ihr sogar, uns ein wenig aufzuheitern. Vater und ich

Weitere Kostenlose Bücher