Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
dauerte sehr lange, meine Mutter würde sagen, es dauerte »die ganze gottverdammte Nacht«, das Rattern der Räder habe ich noch immer im Ohr. Von Zügen träume ich oft, entweder verpasse ich sie oder renne ihnen sinnlos hinterher, immer in der Hoffnung, irgendwann aufspringen zu können. Oder ich sitze im Zug, auf einem gemütlichen Sitz, manchmal aber auch auf einer harten Holzbank, dann wieder suche ich verzweifelt nach dem Ausgang, um den Zug zu verlassen, der mich in eine mir unerwünschte Richtung bringt. Diese Träume habe ich nie zu deuten versucht, Traumdeutungsbücher habe ich nie gelesen, weil ich wusste, dass mein erster kleiner Dubrovniker Zug die materia prima aller meiner Züge ist. Und als diese Träume anfingen, sich in unzählige andere Schauplätze aufzufächern, bekamen die Reisen manchmal unheimliche symbolische Bedeutungen für mich und ich versuchte, mich an der Station Gruž zu beruhigen. Dort mündeten die meisten meiner Träume.
Wenn ich im Traum in einen Zug sprang und in mir unbekannte, weit entfernte Gegenden fuhr, endete ich doch immer wieder an der Station, an der ich zu Beginn aufgebrochen war. Das war sogar dann der Fall, wenn ich mit meinem eigenen Auto unterwegs war, ohne eine Fahrkarte, ohne eine Zeitbegrenzung; wenn ich irgendwo in einem Hotel übernachtete, träumte ich immer, dass der Zug mir vor der Nase weggefahren war, dass ich hilflos im Zimmer zurückblieb, ohne Fahrzeug, ohne irgendeine andere Möglichkeit, meine Reise fortzusetzen. Diese Träume gingen manchmal in richtige Albträume über, die Eisenbahnschienen surrten auf eine unangenehme Weise, die Gleise überschnitten sich, ich fuhr über irgendwelche Abgründe hinweg, voller Sehnsucht und unglücklich, denn alles, womit ich als Mensch tief verbunden war, wofür ich etwas empfand, war längst nicht mehr Teil der sichtbaren Welt. Dann war nur noch ein Gewirr aus Stimmen zu hören, das aus der Erde zu mir herauftönte.
In ein, zwei Tagen fahren wir zurück in die Stadt, das Manuskript habe ich durchgearbeitet, keinen Tag lang war ich untätig. Es fällt mir schwer, das Meer zu verlassen, in der Stadt wird die Arbeit sicher nicht so gut vorangehen. Auch in biblischen Texten hat das Meer religiösen Charakter, nur für geistlose und schlechte Menschen ist es einfach ein Element, einfach nur Wasser. Aber das ist es am allerwenigsten. Von den Dichtern konnten wir in den vergangenen Jahrhunderten lernen, dass sogar der Zweifel angebracht ist, ob es sich überhaupt um Wasser handelt, denn sie besangen es wie eine göttliche Kraft, die alle Regeln von Chaos und Ordnung in sich trägt.
In der Kindheit war ich oft wütend auf meinen Vater, der mir immer versprach, nach seiner Abreise anderntags vom Meer zurückzukommen, sich aber nie daran hielt. Heute kann ich seine Erklärungen verstehen, kann ganz und gar nachvollziehen, dass alles anders wird, wenn man das Meer erblickt, ja dass die Versprechungen, die man macht, sich in nichts auflösen, weil man am Meer ein anderer wird. Aber zu jener Zeit konnte ich das nicht verstehen, jetzt weiß ich, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Ich weiß jetzt, was es bedeutet, wenn man »von Angesicht zu Angesicht mit der Tiefe« steht, denn, so hatte er es gesagt, jeder Mensch, sei er noch so begrenzt, ist immer an die Tiefe gebunden. Wie hätte ich damals so etwas verstehen können? Vielleicht begreife ich es auch heute nicht in Gänze, aber ich weiß, ob nun begrenzt oder nicht, dass ich mir bald ein Städtchen am Meer aussuchen und dort leben werde. Ich würde sogar jedem, der seiner Heimat den Rücken kehrt, das Meer ans Herz legen, denn es ist ohnehin das Einzige, was man wirklich braucht, so »wie die Nahrung, wie das Öl oder wie eine Kerze«. Jetzt verstehe ich auch den Dichter, der diese Zeile geschrieben und gesagt hat, dass die Stadt ihn mit Trauer erfüllt und er sich einfach immer nach dem Meer »wie die Seele nach dem Purgatorium und dem Vaterunser« sehnt.
Mein Vater muss eine Ahnung davon gehabt haben – er konnte genießen, und genießend wehrte er sich gegen jegliche Einengung. Manchmal kam er in eine besondere Stimmung, und in Gesprächen fing er dann plötzlich an, sich mir zu offenbaren, sprach über die Gründe für sein Trinken, wurde pathetisch, gebrauchte feierliche Worte wie etwa »Verschmelzung«, es gelang ihm dabei eine sehr melodische Sprache und andächtig hörte ich ihm zu. »Du musst das Meer immer loben, ganz gleich ob Wellen zu sehen sind oder
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