Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
belogen sie und erzählten ihr, dass ich ihn bis Gruž hinter mir hergezogen hätte, als sei ich ein bissiger Gendarm, um ihn schließlich mit rabiater Kaltblütigkeit in den Zug zu werfen. Mutter wollte uns schon verraten und erzählen, dass wir uns verpasst hatten, aber wir brachten sie mit unseren Blicken und Gesten zum Schweigen. Ich stieß sie unter dem Tisch mit dem Fuß an, denn sie konnte kein bisschen lügen. Die Lehrerin war stolz auf mich und lobte mich vor meinen Eltern.
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Ich sitze auf einer herrlichen Terrasse, mit Blick auf den Jachthafen und Segelschiffe, und in der Ferne sind ein paar kleine Inseln zu sehen. Ich habe mir einen Platz in einem angenehmen Schatten aus Erdbeerranken gesucht und sehe mein Manuskript durch, das ich vor über zwanzig Jahren geschrieben habe. Aus einer Mappe hole ich meine damaligen Notizen, sehe mir Blatt für Blatt an, was damals so kurz vor der Drucklegung stand. Ich hatte mich ganz plötzlich gegen die Publikation entschieden, so als hätte ich selbst Angst vor dem Text bekommen, an dem ich so lange geschrieben habe. Es hatte damals vorab sogar schon Rezensionen gegeben, und jetzt stieß ich auf eine wohlwollende Kritik eines Journalisten, der leider verstorben ist, das sage ich mit Pietät und Mitgefühl, denn er ist in seinen besten Jahren gestorben; er hatte geschrieben, dass jeder von uns »im Besitz seines eigenen inneren Bahnhofs« sei. Das gefiel mir, vielleicht war es sogar wahr, was er da von sich gegeben hatte. Damals glaubte ich noch daran, dass das Schreiben beruhigend auf einen Menschen wirken kann. Jetzt bin ich nicht mehr dieser Meinung, in meinem Alter wird man nicht mehr geheilt, und Therapeutisches ist auch gar nicht vonnöten. Ich bin in einem Alter, in dem man Witze auf eigene Rechnung machen kann, ich ringe nicht mehr mit den äußeren Kräften, ich reise nicht mehr, mit großer Gelassenheit mache ich mich lediglich auf den Weg, von meinem inneren Bahnhof aus, und der einzige Zug, den ich dabei noch besteige, ist der für das nächste Kapitel. Das sind die einzigen Stationen, die noch auf mich warten. Ich möchte nicht sagen, und das kann ich auch nicht, dass ich gänzlich zufrieden bin; mein Lebensmensch begleitet mich, meine Frau ist mir mein teuerster Begleiter, fast hätte ich gesagt, mein einziger Leser, sie inspiziert jeden Satz, den ich schreibe, als sei er von weittragender Bedeutung, sie gibt mir Ratschläge und Hinweise, besteht darauf, dass ich die blasphemischen Passagen streiche, Skandalöses ebenso und alle expliziten erotischen Anspielungen ohnehin; das seien alles Stereotype, sagt sie, tausendfach verwendet, abgenutzt, und das würden sie auch bleiben, bis jemand mit einem neuen Blickwinkel und einem neuen Stil käme.
Genau das ist jetzt meine Arbeit, ich mache sie auf dieser Terrasse, ich versuche, ihren Ratschlägen gerecht zu werden, bereinige das Manuskript und kürze es, komme langsam, aber sicher zu der heute im Grunde vergessenen »Ästhetik der Verknappung« zurück. Die Arbeit verlangt eine gnadenlose Strenge, und während ich mich in ihr übe, kommen mir viele Schriftsteller in den Sinn, die sich mit ihrem Skalpell an den »Manuskripttumor« herangewagt haben. Das Talent des Schreibenden liegt wohl vornehmlich darin, mit der unsichtbaren Waage hantieren zu können, das Geschriebene zu überprüfen, die »Seelenergüsse« zu beseitigen und Unnötiges einfach zu streichen. Das ist für keinen Schriftsteller eine Lieblingsbeschäftigung. Mich erfüllt sie jedoch sehr, denn immer wenn ich etwas Überflüssiges gestrichen habe, habe ich später festgestellt, dass das Manuskript nicht einmal ein bisschen Schaden dadurch genommen hatte. Im Gegenteil, es fehlte weder ein Wort noch ein Passus, die tragende Wand stand noch immer, bekam sogar durch Verknappungen eine bessere Erdung und ich konnte sie von innen stützen. Es mag verwundern, aber sogar Ätherisches lässt sich auf diese Weise im Schreiben am besten erhalten. Einmal hat ein Schriftsteller diese Erfahrung auf den Punkt gebracht, als er sagte, seine Bücher würden gleichermaßen vom Nasenrotz wie von der Luft zusammengehalten werden.
Dieses Kapitel ist eine Haltestation, hier musste ich durchatmen, ich bin müde und bedrückt, vom frühen Morgen an hat sich etwas Dunkles auf mein Gemüt gelegt. Ich habe von meinen toten Freunden geträumt. Mit einem Dichter, der einst ein mir sehr naher Freund gewesen ist, reiste ich mit einer unterirdisch fahrenden Eisenbahn, das
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