Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
hatte ich durchaus Verständnis. An diesem Tag blieb ich bis zum späten Abend bei meiner Mutter und sagte plötzlich zu ihr, dass sie einen viel besseren Mann als Vater verdient hätte. Sie legte schnell ihre Hand auf meinen Mund und sagte: »Wenn ich ihn nicht genommen hätte, würde ich auch dich nicht haben.«
Mir wollte das nicht in den Kopf, denn ich stellte mir vor, dass sie mich andernfalls eben mit jemand anderem gezeugt hätte, aber sie sah das ganz anders, sagte, mit jemand anderem wäre ich nicht ich gewesen, sondern eben jemand anderer. Diese undurchsichtige Philosophie leuchtete mir eine ganze Zeit lang überhaupt nicht ein, sogar als Erwachsener fragte ich meine Mutter immer wieder, warum sie meinen Vater zum Ehemann gewählt hatte und ob sie in ihn verliebt gewesen war. Sie drückte sich davor, mir darauf eine direkte Antwort zu geben, sprach davon, dass die Treue sehr viel wichtiger gegenüber dem Ehemann sei als die Liebe und der Respekt nützlicher als die Verliebtheit.
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Von Tag zu Tag veränderte sich meine Mutter immer mehr; nicht nur, dass ihr Körper und ihre Brüste dicker geworden waren, sie war insgesamt eine schwierige Frau geworden, die Waage zeigte das leider genauso wie das Leben – so waren die Worte meines Vaters. Ständig mussten wir etwas für sie tun, es ihr hier und da recht machen, und dennoch fand sie immer etwas zu meckern, erteilte uns ständig irgendwelche Lektionen über Gott und die Welt, sei es über einfache Dinge in der Küche, sei es über die Kunst der Kaffeezubereitung, dann wollte sie auch noch unbedingt anordnen, auf welche Weise wir die Wäsche aufhängen sollten, und natürlich hatte sie auch den Wunsch, uns das Kochen, wie sie selbst es gelernt hatte, beizubringen. Es gab Augenblicke, in denen sie regelrecht darauf wartete, dass Vater und ich irgendetwas falsch machten, aber helfen wollte sie uns auch nicht, selbst dann nicht, wenn wir sie liebevoll darum baten, deshalb kam es oft dazu, dass wir uns aus dem Nichts heraus und wegen Kleinigkeiten stritten. Aber zum Glück lösten die Streitereien sich genauso schnell in Luft auf, wie sie aufgekommen waren, und wir konnten ihr damals auch nicht dauerhaft etwas übelnehmen, es fiel uns leicht, als sie in anderen Umständen war, ihr rasch zu verzeihen.
Es ging uns total auf die Nerven, wenn Mutter stundenlang auf dem Sofa herumlag und sich ständig um ihr Haar kümmerte, es kämmte, dann wieder zu einem Zopf flocht, dann zwei Zöpfe aus dem einen machte, die Haarbüschel einsammelte und aus ihnen kleine Kügelchen drehte. In den Gemischtwarenladen kam sie kaum noch herein, weil sie Angst vor den Treppen hatte, und wo immer sie auch hinging, tat sie es behäbigen Schrittes, blieb häufig stehen, zwang auf diese Weise auch uns, langsamer zu gehen, und wir hatten das Gefühl, sie tue es deshalb, damit die Leute sie ansprachen und fragten, in welchem Monat sie war, wie es ihr gehe, wann der Nachfolger denn das Licht der Welt erblicken werde und so weiter. Manchmal stampfte sie bis zu irgendeinem Garten oder einer Wand, atmete tief durch, und ich musste sie die ganze Zeit an der Hand halten, weil ihr immer häufiger schwindlig wurde. Im Kopf, sagte sie, habe der Schwindel immer angefangen, aber mir kam das alles vor wie eine Pose.
Sie hatte manchmal eigenartige Gelüste, die uns besorgniserregend erschienen, einmal verlangte sie zum Beispiel, dass wir ihr einen Hut kauften, denn wenn sie ohne nach draußen ginge und der Sonne ausgesetzt sei, bekäme sie Sommersprossen im Gesicht. Wir versuchten, ihr die Hutsache auszureden, aber sie ging nicht auf uns ein und lachte uns sogar aus. Als Vater ihr den Vorschlag machte, sich ein Tuch um den Kopf zu binden, wenn sie in die Sonne ging, sagte sie vollkommen hysterisch und bissig, er wolle wohl eine Dörflerin aus ihr machen, eine Schwangerschaft sei aber der einzige Weg, wie eine Frau hier Respekt genießen könne, eine Zeit, in der sie sich wie ein Mensch fühlen durfte, denn sobald sie das Kind geboren hätte, warteten auf sie die immergleichen Dinge, die sie schon ihr Leben lang tat. Damals schlug ich mich auf die Seite des Vaters und erinnerte sie daran, dass sie sich selbst über die sogenannten Damen lustig gemacht hatte, die mit Hüten unterwegs waren. Um glaubwürdig zu wirken, sagte ich den Satz im gleichen Tonfall, in dem auch sie ihn damals gesagt hatte. Und dann drängte ich sie dazu, das bitte nicht zu tun, vor allem weil sie noch nie in ihrem Leben
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