Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
galt auch der Rüben- und Sonnenblumenernte, von der die Ölgewinnung abhing. Meinem Schwiegervater klopfte ich dabei eifrig auf den Rücken und krümmte mich bei der Erwähnung seiner Ackerarbeiten vor Lachen. »Ja, was hat denn das Jahr schon eingebracht, ist es schon weniger als letztes Jahr, ist der Sommer so prall und wie geht’s denn heute unserer lieben Sau, wie viel Meter Weizen liegen denn im Speicher herum, haben wir denn die Samen im Genossenschaftsladen abgegeben, wie sieht es mit der Getreideablöse aus, haben uns die Federkäufer etwa über den Tisch gezogen, sollen wir noch ein Gehöft anbauen?« Als hätte mich der Teufel angestachelt, war mir all das eingefallen und ich hatte es laut ausgesprochen. Tibor sagte nichts. Das Abendessen verlief friedlich, es war nichts außer dem Klirren des Bestecks und dem Schlürfen der Suppe zu hören.
Eva schlug vor, dass wir zu viert ein Gespräch führen sollten, und um unsere Verlobung noch irgendwie zu retten, machte sie einen ungewöhnlichen Vorschlag.
»Da dein Name für uns keine Bedeutung hat, möchte ich dich fragen, ob es dich stört, wenn wir dich Attila nennen?« »Attila!«, rief ich erstaunt aus. »Warum denn ausgerechnet dieser Name?«
»Wir mögen ihn. So hieß einer unserer Vorfahren«, sagte sie. »Vielleicht können wir auf diese Weise die Risse zwischen uns kitten«, sagte sie.
Ich widersetzte mich nicht, sollten sie mich rufen, wie immer sie wollten, ich hatte überhaupt keine feste Vorstellung von Identität. Mir gefiel sogar der Name Attila besser als mein eigener, außerdem klang mein Nachname ohnehin ein wenig Ungarisch. Das Heft, auf das ich Blume ohne Wurzeln geschrieben hatte, wurde für mich zur täglichen Zuflucht für alles, was ich über meine Wurzeln zu sagen hatte. Aber alles, was ich da hineinschrieb, verwandelte sich gleichsam von allein in sein Gegenteil. Ich war nie darauf erpicht gewesen, mir eine Identität zuzulegen, und eigentlich war ich auch nicht auf der Flucht vor dem, was sie hätte für mich darstellen können. Auf keinen Fall wollte ich irgendeine Art von Obsession im Hinblick auf dieses Thema entwickeln, denn für mich war klar, dass Identität in meinem Falle einfach bedeutete, dass jeder Mensch anders war und ich mich eben in dieser Weise von anderen unterschied und nur einmal so auf der Welt war, wie ich es nun einmal war. Man sagt gemeinhin, man könne nicht vor dem eigenen Selbst flüchten. Aber ich hatte mir geschworen, dieses Selbst dazu zu bringen, sich vor mir in die Flucht zu schlagen.
Nun reiste ich also als Attila mit Eva von einem Jahrmarkt zum anderen. Wir waren auf tausend Festen, weil sie verrückt nach solchen Ereignissen war. Sie amüsierte sich und tanzte bis zur Erschöpfung. Ich war ständig bei ihr und passte auf ihre Handtasche auf, während sie sich bei einem Kolo oder bei einem traditionellen ungarischen Volkstanz vergnügte. Eva war attraktiv, sie stach aus den anderen jungen Frauen heraus, nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch durch die Art, wie sie sich kleidete, schminkte, wie sie ihre Frisur trug und auch beim Tanz, sie war nicht zu schüchtern, um auch ihr Kleid bis zu den Oberschenkeln hochzuheben, manchmal sogar bis zum Hinterteil. Ich genoss es, die verlockenden Reize ihres Körpers zu sehen, teilte die Freude bei ihrem Anblick mit anderen und klatschte und pfiff übermütig zu ihrer Unterstützung. Eva sorgte bei diesen Zusammenkünften immer für Freude, alle wollten dort sein, wo sie war und tanzte, die meisten wollten so auch ihren Alltagssorgen entfliehen. Ich war fröhlich, aber nicht nur deshalb, weil sie meine Verlobte war, sondern weil mich die Freude der anderen an ihr ebenso glücklich machte.
Auf einem dieser Jahrmärkte lernte ich einen jungen Mann kennen, der aus der gleichen Gegend kam wie ich. Er war mit einer dunkelhäutigen Ungarin verheiratet, die sicherlich von den Zigeunern abstammte. Ich erinnere mich an ihre großen Augen, ihre schmale Taille, an ihre Brüste und die vollen Lippen, sie trug Schmuck und bunte Kleider, die größten Ohrringe, die ich je gesehen habe. Ich schreibe darüber, weil ich sie und ihren Mann nie vergessen habe. Er klebte sich auf diesem Jahrmarkt förmlich an mich, er muss um die dreißig gewesen sein. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass wir uns miteinander anfreunden müssten, weil sich unsere Schicksale als ungarische Schwiegersöhne gekreuzt hatten. Mir war weder eine schicksalhafte noch vom Blut her abgeleitete
Weitere Kostenlose Bücher