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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Aber ich habe nie auch nur einen verdammten Hinweis auf das Arsenal gefunden, ebenso wenig wie Dagos Streuner und Hannibals Leute. Vielleicht ist es nur eine Legende, weiter nichts.«
    »Wie habt ihr von der Existenz des Arsenals erfahren?«
    Louise hob und senkte die Schultern. Ihre Kleidung befand sich in einem ähnlich schlechten Zustand wie die von Benjamin: Die Jacke war an mehreren Stellen aufgerissen, und Blut klebte an Hemd und Hose. Doch Gesicht und Hände waren sauber, mit Flusswasser gewaschen.
    »Man erzählte sich schon davon, als ich in der Stadt eintraf«, antwortete sie. »Angeblich stammen alle Waffen in der Stadt aus dem Arsenal, obwohl man sie an verschiedenen Orten entdeckte. Hannibal erwähnte einmal, dass Laurentius vor vielen Jahren von dem Arsenal gesprochen hat. Und dann
wäre da noch Kowalski. Er will einen Blick auf das Arsenal geworfen haben, als ihn die Schatten erwischten.«
    »Kowalski …«, murmelte Benjamin und dachte an sein Katastrophenmeter, das zehn auf der positiven Skala angezeigt hatte. Er hatte Chaos in der Stadt vorausgesagt, ebenso wie Laurentius, und Benjamin nahm den scharfen Geruch der Veränderung erneut wahr, wie einen Schwelbrand kurz vor der ersten Flamme. »Kowalski ist nicht annähernd so verrückt, wie viele Leute glauben.«
    »Kowalski ist tot«, sagte Louise. »Wie auch die anderen. Sie liegen irgendwo dort draußen im Sumpf. Oder die Kreaturen haben sie gefressen.«
    »Mag sein. Oder sie sind irgendwie mit dem Leben davongekommen, so wie wir.«
    »Wie ich . Du bist gestorben.«
    Benjamin sah am nächsten Lagerhaus hoch. Rampen führten von den großen Türen zum Ufer, und für einen Moment erschienen ihm die Fenster darüber wie leere Augenhöhlen. Er kam sich beobachtet vor, und es fiel ihm schwer, dieses Gefühl abzuschütteln.
    »Ich weiß, wo sich das Arsenal befindet«, sagte Benjamin mit fester Stimme. »Ich habe es gesehen, in der anderen Welt und auch hier.«
    »In der anderen Welt?«, wiederholte Louise.
    »In meinem Leben«, sagte Benjamin. »Ich habe das Arsenal in meinem Leben gesehen, als Waffensammlung, und ich glaube, ich bin auch dir begegnet.«
    »Mir?«, fragte Louise verblüfft.
    »Ja. Komm, lass uns gehen. Unterwegs erzähle ich dir alles.«

    Als sie am Ufer des Flusses entlang stadteinwärts gingen, bewegte sich in einem dunklen Fenster etwas. Jemand saß dort, dürr und ausgemergelt, und blickte durch einen alten Feldstecher mit zerkratzten Linsen. Er beobachtete den Mann und die Frau, bis sie hinter der Ecke eines Lagerhauses verschwanden. Daraufhin nahm er seinen Rucksack, verließ das Gebäude und folgte dem Paar in sicherem Abstand.

    »Dieses Institut, von dem du mir erzählt hast, Ben … Es klingt nach einem Gefängnis.«
    »Die Fenster waren vergittert, und die Türen verfügten über spezielle Verriegelungssysteme«, sagte Benjamin. »Die meisten Menschen darin waren gefangen, und die anderen wachten über sie. Es gab auch Ärzte.« Er sprach langsam, als wollte er zunächst das Gewicht seiner Worte prüfen. Er hatte in jenem Gebäude etwas getan, etwas Schlimmes. Die Erinnerungen daran warteten in ihm, aber noch war er nicht bereit, sich ihnen zu stellen.
    Sie folgten dem Verlauf einer schmalen Straße, die kaum mehr war als eine Gasse. Altes Kopfsteinpflaster schaute durch große Löcher im Asphalt. Rechts und links standen alte Häuser dicht an dicht, und oben blieb nur wenig Platz zwischen den vorstehenden Dächern. Benjamin stellte sich vor, wie Seeleute und Hafenarbeiter durch diese Straße unterwegs waren, wie Musik aus Lokalen ertönt war und Betrunkene gegrölt hatten. Aber es war geisterhaftes Leben, mit dem er diesen Teil der Stadt zu füllen versuchte, und die Phantome, von seiner Phantasie geschaffen, verbannten die Stille nur für wenige Sekunden. Dann kehrte das Schweigen
der Stadt zurück, kroch in alle Ritzen und dämpfte sogar das Geräusch ihrer Schritte.
    »Ich bin nie in einem solchen Gefängnis gewesen«, sagte Louise, als sie das Ende der Gasse erreichten und sich orientierten. »Zumindest erinnere ich mich nicht daran.«
    »Wie bist du gestorben?«, fragte Benjamin sanft. »Auf welche Weise hast du Selbstmord begangen?«
    Louise zögerte. »Darüber möchte ich eigentlich nicht reden.«
    »Es könnte wichtig sein.«
    »Wichtig wofür?«
    »Um dies alles zu verstehen.«
    Louise wandte sich nach rechts, in eine etwas breitere Straße. Dort standen die Häuser nicht mehr ganz so eng und wurden etwas höher.

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