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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Hier und dort hingen leere Blumenkästen vor den Fenstern, und das Licht der Sonne spiegelte sich auf intaktem Glas wider.
    »Wie weit ist es noch?«, fragte Benjamin.
    »Deine Beschreibung passt auf ein Gebäude, das wir ›Amtsgericht ‹ nennen. Noch eine Viertelstunde zu Fuß, mehr nicht.«
    Fünf Minuten waren vergangen, als Louise sagte: »Ich habe versucht, mir die Halsschlagader aufzuschneiden, aber dabei muss ich mich ziemlich dumm angestellt haben. Ich weiß noch, dass ich dachte: Warum fließt nicht mehr Blut? Ich war verzweifelt und schnitt mir schließlich die Pulsadern an den Händen auf.«
    »Was ist mit Medikamenten? Hast du vorher Medikamente genommen?«
    Louise setzte langsam einen Fuß vor den anderen, fast wie
in Trance. »Jede Menge. Alles, was ich kriegen konnte. Ich hatte es geplant, schon Tage vorher.«
    »Es könnte stimmen«, sagte Benjamin vorsichtig. »Du könntest Françoise sein.«
    »Traurig genug bin ich gewesen, soviel steht fest. Und der behandelnde Arzt …«
    »Hat er dich missbraucht?«
    »Er war ein verdammter Mistkerl. Noch fieser und gemeiner als die anderen. Ich hätte das Messer nicht benutzen sollen, um mein Leben zu beenden, sondern um ihn zu töten.«
    »Es passt«, sagte Benjamin, aber es klang ein wenig hilflos, selbst für seine eigenen Ohren.
    »Was passt, Ben? Versuchst du noch immer, alles an seinen Platz zu rücken? Hältst du noch immer nach dem großen Sinn Ausschau, nach dem göttlichen Darum und Deshalb ? Deine Suche ist sinnlos, Ben. Wir sind hier, und damit hat es sich. Wir sind gestorben, und wer von uns dachte, im Tod endlich Ruhe zu finden, hat eine verdammt unangenehme Überraschung erlebt, ein großes Ätsch .«
    »Du hast die Maschine gesehen, und die anderen Städte, vom Ballon aus«, erwiderte Benjamin, als sie an leeren Fenstern vorbeigingen, hinter denen einst Waren gelegen oder Menschen gegessen und getrunken hatten. Oder waren sie nur Kulisse, nichts weiter als Staffage, von Anfang an ohne Leben gewesen? »Du hast die Lichtsignale gesehen, mit denen andere Menschen um Hilfe gerufen haben.«
    »Eben. Nichts deutet daraufhin, dass es dort draußen besser ist als hier.«
    »Willst du verhungern und sterben, um dann ins Leben zurückzukehren und erneut zu verhungern?«, hielt ihr Benjamin
entgegen. »Dort draußen gibt es nicht nur den Nebel, das wissen wir jetzt. Macht dich das nicht nachdenklich? Dies alles muss einen Sinn haben. Es muss eine Erklärung geben.« Er hörte die Worte und wusste, dass sie nicht alles zum Ausdruck brachten, was er sagen wollte. »Gehört es nicht zur Natur des Menschen, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen?«
    »Gut«, sagte Louise, als hätte er ihr damit ein Stichwort gegeben. »Dann lass mich ebenfalls eine Frage stellen: Warum bist du in dem Institut gewesen, Ben?«
    Unbehagen erfasste Benjamin. »Townsend hat eine neue Behandlungsmethode an mir ausprobiert.«
    »Er hat dich behandelt«, sagte Louise. Sie ging noch immer mit langsamen Schritten und sah nach vorn. » Warum hat er dich behandelt, Ben? Warum hat er dir falsche Erinnerungen eingepflanzt?«
    »Vielleicht weil ich … getötet habe.«
    »Jene Erinnerungen sind sehr vage, wenn ich dich richtig verstanden habe. Wie Schatten von Albträumen. Warum sollten diese Erinnerungen realer sein als die anderen? Außerdem: Jemand, der getötet hat, kommt ins Gefängnis. In zivilisierten Ländern. In anderen bringt man ihn um.«
    »Ich bin in einem wirklichen Gefängnis gewesen. Glaube ich jedenfalls.«
    »Das meine ich, Ben. Du glaubst es, aber du weißt es nicht. Der Tod trennt dich vom Leben, und er hat unsere Erinnerungen durcheinandergewürfelt. Die Älteren unter uns, ich meine jene, die schon viele Jahre in der Stadt sind … Sie erinnern sich kaum mehr an ihr Leben. Weil es keine Rolle mehr spielt, Ben. Wir sind tot. Dies ist das Jenseits. Vielleicht
führen wir hier ein neues ›Leben‹, oder es ist eine ätherische, transzendentale Existenz, die uns ein Leben vorgaukelt. Ich weiß es nicht. Der Mensch versucht, sich an Vertrautem festzuklammern, und vielleicht befinden wir uns deshalb in einer Stadt, die gar keine gewöhnliche Stadt sein kann! Was ich sagen will …« Louise unterbrach sich. Auch sie schien Schwierigkeiten mit der Unzulänglichkeit von Worten zu haben. »Suchst du vielleicht nach einer Tür, die aus dem Jenseits führt, nach einem Ausgang? Ist es das? Erhoffst du dir eine Möglichkeit zur Rückkehr ?«
    Sie kamen durch eine schmale

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