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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Gasse, die gerade genug Platz bot, dass sie nebeneinander gehen konnten, und hier war das Geräusch ihrer Schritte etwas lauter. Über ihnen zeigte sich ein wolkenloser Ausschnitt des Himmels, und es blieb kühl. In diesem Teil der Stadt herrschte weder Sommer noch Winter. Es fühlte sich nach Herbst an, fand Benjamin.
    »Ich habe von Anfang an den Drang verspürt, die Stadt zu verlassen«, sagte er fast wie zu sich selbst. »Zuerst war alles überwältigend neu für mich, und daher spürte ich den Drang nur als eine Unruhe, die ich auf den Schock des Todes zurückführte. Aber gleich in der ersten Nacht … Weißt du noch, die Schatten, die uns verfolgten? Du hast das ungewöhnlich genannt. Später erschienen sie erneut, auf dem Platz, wo der Gefangenenaustausch stattfand. Und ich begegnete ihnen ein drittes Mal, im Haus mit deinem Notquartier. Einer berührte mich, und vielleicht starb ich dabei; da bin ich mir noch immer nicht ganz sicher. Sie hatten es auf mich abgesehen, Louise. Auf mich . Und dann die Baumhütte. Du hast den mumifizierten Toten erwähnt.«
    »Ja.«

    »Warum haben die Kreaturen ihn nicht geholt? Er muss sich in seiner Hütte recht sicher gefühlt haben. Hast du dort Waffen entdeckt?«
    Louise schüttelte den Kopf.
    »Vermutlich hat er dort längere Zeit verbracht. Sonst hätte sich der Bau einer solchen Hütte in dem Baum und der ›Räucherkammer ‹ in einem anderen kaum gelohnt. Irgendwie gelang es ihm, sich die Nebelwesen die ganze Zeit über vom Leib zu halten. Aber als wir in der Hütte waren … Wie oft musstest du von der Pistole Gebrauch machen, um hochkletternde Kreaturen abzuwehren?«
    »Ich hab nicht mitgezählt. Jedenfalls sind deine beiden Reservemagazine fast dabei draufgegangen.«
    »Und als du mich gefunden und in deine Wohnung gebracht hast … Sie befand sich im sechsten Stock, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Der Nebel stieg nicht so hoch, aber eine Kreatur kratzte an der Tür, erinnerst du dich?«
    Louise blieb stehen. »Worauf willst du hinaus, Ben?«
    »Nicht nur die Schatten hatten es auf mich abgesehen, sondern auch die Kreaturen. Und Laurentius, als er mit seinem Teleskop den Ballon entdeckte … Er legte mir praktisch nahe, die Stadt auf diese Weise zu verlassen.«
    »Du fühlst dich gern im Mittelpunkt, wie?«, sagte Louise spöttisch. »Du scheinst daran gewöhnt zu sein, dass sich alles um dich dreht.«
    »Quatsch. Es ist nur …« Ihm fiel etwas ein. »Unsere Seelen stehen miteinander Verbindung, hat Laurentius gesagt, und vielleicht stimmt das. Er meinte, dass wir alle irgendwie
miteinander in Beziehung stehen. Wenn meine Erinnerungen an das Institut und die dortigen Ereignisse richtig sind, und wenn du Françoise bist …«
    »Ich bin Louise.«
    »Wenn du Françoise warst und es aus irgendeinem Grund vergessen hast … Es muss eine Erklärung dafür geben. Für dies alles.«
    »Und das Arsenal …«
    »Ich habe es genau gesehen«, sagte Benjamin sofort. »Nach den Erinnerungsbildern von Townsend, der mir seine Waffensammlung zeigte. Es befindet sich in einem drei- oder vierstöckigen Gebäude mit graubrauner Sandsteinfassade. Die Architektur ist dem Jugendstil nachempfunden, in der Art des Hauses Singer in Sankt Petersburg, wenn du damit etwas anfangen kannst.«
    »Hab nie davon gehört.«
    »Vier Säulen tragen ein Dach über dem Eingang. Das ›Amtsgericht‹, hast du gesagt.«
    »Sieht das Gebäude, das dir in einer Vision erschien, so aus?« Louise trat aus der schmalen Gasse und deutete nach rechts.
    Benjamin folgte ihr, und dort, auf der anderen Seite eines leeren Platzes, stand das »Amtsgericht«, genau so, wie er es beschrieben hatte.

44
    Die Zimmer waren leer und voller Staub, die Fensterscheiben trüb von Schmutz. Etwas hellere Stellen an den Wänden deuteten darauf hin, dass dort einmal Bilder gehangen und Möbel gestanden hatten, aber nirgends fanden sie auch nur einen Stuhl.
    Die Tür zum Kellergeschoss stand wie einladend offen.
    »Nun?«, fragte Louise, als Benjamin zögerte. »Von Waffen keine Spur. Bisher haben wir nicht einmal eine einzige Patrone gefunden.«
    »Sehen wir unten nach«, sagte Benjamin und ging die Treppe hinunter. Dunkelheit erwartete ihn, und Düsternis wurde daraus, als sich seine Augen darauf einstellten. Auch im Keller hatte sich überall eine dicke Staubschicht gebildet, und ihre Bewegungen wirbelten etwas davon auf. Louise nieste zweimal.
    »Hier ist seit einer Ewigkeit niemand gewesen«, sagte sie.
    Auch die Kellerräume waren

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