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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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den zerrissenen, blutverschmierten Vorhängen daneben. Dort lag eins der wenigen Kinder der Gemeinschaft, ein Junge von elf oder zwölf Jahren, vielleicht ebenso von einem Querschläger getroffen wie die Frau im Speiseraum – die Angreifer hatten offenbar wild um sich geschossen, ohne groß zu zielen. Auch er würde wieder zum Leben erwachen, selbst wenn man ihn nicht ins Hospital brachte, aber welche Erinnerungen stahl ihm der Tod? Jäher Zorn stieg in Benjamin auf, ungestüm, heiß und wild, und er merkte, wie er die Fäuste ballte, während er auf den Jungen starrte. Dass Kinder starben, erschien ihm falsch und ungerecht genug, aber dass sie hier, in der Stadt der Toten, erneut sterben mussten, wenn auch mit der Aussicht auf baldige Wiederauferstehung, kam einer Verhöhnung gleich.
    Er wandte sich von dem toten Knaben ab, und die Stille senkte sich schwer auf ihn.
    Plötzlich kamen die Klänge einer Geige von oben.
    Benjamin lauschte ihnen mit zur Seite geneigtem Kopf und spürte, wie sich sein Zorn in Kummer verwandelte. Diese zarte, sanfte Melodie, die sich in der Stille entfaltete, erzählte eine traurige Geschichte von Leben und Tod, von Illusionen und zerstörten Hoffnungen. Jeder einzelne Ton fand ein Echo
in Benjamin, hallte durch die Gewölbe seines Geistes und ließ ihn fühlen, was mit all den Toten geschehen war. Für einige wenige Sekunden fühlte er ihren Tod wie eine Bürde mit dem Gewicht eines Berges. Er stöhnte und taumelte, wäre unter dieser gewaltigen Last fast auf die Knie gesunken.
    Ohne eine bewusste Entscheidung drehte er sich zur Treppe um und ging ihre Stufen hoch. Er wankte durch einen Flur, vorbei an einer Frau, die am Ende einer langen Blutspur lag. In der Tür des Zimmers, aus der die Ton gewordene Trauer kam, blieb er stehen. Dort saß er, der Geiger, auf einem Stuhl am offenen Fenster, durch das leichter, kühler Wind wehte und an den Gardinen zupfte. Der kleine, schmächtige Mann blickte hinaus in die Nacht, während er den Bogen über die Saiten der Geige zog. Im Licht der Nachttischlampe sah Benjamin Tränen, die dem Geiger über die Wangen rollten, und er merkte, dass seine eigenen Wangen feucht waren.
    Schließlich ließ der Spieler Bogen und Geige sinken. Die Stille kehrte zurück, füllte die von den Tönen hinterlassenen Lücken.
    »Was soll jetzt aus uns werden?«, murmelte der Geiger. »Was soll nur aus uns werden?«
    »Wo sind all die anderen?«, fragte Benjamin. »Es können doch nicht alle tot sein.«
    »Sie sind zum Supermarkt gelaufen, um beim Kampf gegen Dagos Leute zu helfen.« Der Geiger sah noch immer aus dem Fenster. »Es ist deine Schuld.«
    »Was?«
    »Der Supermarkt … Er ist verschwunden, und diesmal wird er nicht zurückkehren. Ich fühle es. Die ganze Stadt
verändert sich. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Und es ist deine Schuld.«
    »Ich habe Dago nicht zum Arsenal geführt! Ich …«
    »Du bist hier«, sagte der Geiger. »Du bist in der Stadt. Mit dir begann alles.« Er drehte den Kopf und sah Benjamin an. »Etwas ist aus dem Labyrinth gekommen, weißt du das? Nachdem du dort unten warst. Es hat Petrow und die anderen geholt, die verschwunden sind.«
    »Es ist nicht meine Schuld!«, stieß Benjamin hervor. »Ich bin ebenso Opfer wie ihr …«
    »Vielleicht stimmt das«, erklang einer vertraute Stimme hinter ihm. »Aber selbst wenn du die Wahrheit sagst: Hannibal wird dir nicht glauben.«
    Benjamin wandte sich um.
    Velazquez stand dort, mit Farbspritzern im Gesicht und an den Händen. Am rechten Ärmel klebte Blut.
    »Hannibal und die anderen sind auf dem Rückweg hierher, um die Toten ins Hospital zu bringen. Wenn sie dich sehen …« Er schüttelte den Kopf. »Du solltest besser verschwinden, und zwar schnell.«
    »Ich habe nichts getan!«
    »Die anderen haben Dago gehört und dich bei ihm gesehen. Dich und Louise, die dich hierherbrachte. Hannibal glaubt, dass es von Anfang an eine Falle war, dass du bei uns eingeschleust worden bist.« Velazquez hob die Hand, als Benjamin heftig widersprechen wollte. »Man würde dich vor Gericht stellen, und du bekämst Gelegenheit, dich zu verteidigen, aber glaub mir, niemand würde dir glauben. Alle suchen nach einem Sündenbock, und Hannibal zeigt mit dem Finger auf dich.«

    »Aber …«
    »Mach dich auf und davon, solange du noch Gelegenheit hast. Und nimm Louise mit – ich hab sie drüben bei Hannibals Bude gesehen. Wenn Hannibal euch erwischt … Es dürfte damit enden, dass er euch ins Loch

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