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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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ratterte, in einer Entfernung von kaum zehn Metern, und als Benjamin vorsichtig den Kopf hob, sah er ihn: den Dreispitz auf dem Kopf, der Striemen wie ein rotes Band am Hals, die Andeutung eines pockennarbigen Musters auf den Wangen, in den Augen das Glitzern eines Irren, der durch ganz neue Territorien des Wahnsinns wandelte. Er lachte und schoss, lachte noch etwas lauter und schoss erneut. Eine Kugel der Verteidiger traf ihn am linken Arm, und Benjamin beobachtete ein kurzes rotes Spritzen, aber wenn Dago
Schmerzen empfand, so verloren sie sich in der Ekstase völliger Ausgeflipptheit. Jasmin erschien neben ihm und feuerte mit ihren beiden Browning High Power; offenbar hatte sie inzwischen nachgeladen.
    Weitere Streuner erreichten den Supermarkt, unter ihnen auch Sonja, die ihre Panzerfaust bereithielt.
    Wenn sie das Ding hier drin einsetzt, sind wir alle erledigt, dachte Benjamin. Zusammen mit Louise krabbelte er nach rechts, in einen Bereich des Supermarkts, der von Verteidigern und Streunern weitgehend verschont zu sein schien. »Vorn kommen wir nicht mehr raus!« Er musste fast brüllen, damit Louise ihn verstand, obwohl sie nur einen Meter entfernt auf allen vieren an einem Regal mit Konserven entlanghastete. Fast ständig peitschten und krachten Schüsse; auf der anderen Seite des Supermarkts, drüben bei der Möbelabteilung, kam es zu einigen kleineren Explosionen. »Gibt es hier irgendwo einen Hinterausgang?«
    Louise nickte und sagte etwas, das Benjamin nicht verstand. Sie kam auf die Beine und winkte, und er folgte ihr, als sie zum Ende des Regals lief und dort vorsichtig um die Ecke spähte. Benjamin blieb dicht hinter Louise stehen, die rechte Wange neben einigen Dosen mit Erbsensuppe, und nahm ihren Geruch wahr. Sie schwitzte, aber er empfand ihren Schweißgeruch keineswegs als unangenehm, im Gegenteil. Sie riecht und ich stinke, dachte Benjamin. Und dann dachte er: Was gehen mir für blödsinnige Gedanken durch den Kopf.
    Es wurde immer wärmer. Inzwischen musste die Temperatur bei siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Grad liegen, und sie stieg weiter. Benjamin wischte sich Schweiß von der Stirn.

    Rauchschwaden zogen durch den Supermarkt, manche von ihnen grau wie der Nebel, der am Rand der Stadt auf die nächste Flut wartete, andere finster wie die Nacht. In einer der dunklen Wolken bekam Louise einen Hustenanfall. Offenbar hatte jemand in der Nähe gestanden, verborgen in den dichten Schwaden, denn plötzlich tauchte eine Gestalt neben ihr auf, mit einer Armbrust bewaffnet – vermutlich jemand aus der Gemeinschaft.
    »Wir sind keine …«, begann Benjamin noch einmal und begriff dann, dass es sinnlos war. Erklärungen kosteten Zeit, viel mehr Zeit, als ein Zeigefinger brauchte, den Abzug der Armbrust zu drücken.
    Er sprang, nutzte das eigene Bewegungsmoment und rammte dem Gemeinschaftsmitglied, dessen Namen er nicht kannte, die Faust ins Gesicht. Der Mann klappte mit einem Ächzen zusammen.
    Zwei Gänge entfernt ratterte eine Uzi, und irres Gelächter kam durch die Rauchschwaden.
    »Ich habe ein Sonderangebot für euch!«, rief Dago den Verteidigern zu. »Für jede Kugel, die ihr uns schickt, kriegt ihr zehn zurück. Ist das nicht großzügig?«
    Es wurde heller, und Benjamin sah nach oben, um festzustellen, ob etwas mit den Lampen geschah. Aber das Licht kam nicht von dort, sondern wie aus der Luft selbst, durchdrang auch die dunkelsten Rauchschwaden und schuf messerscharfe Kontraste. Gleichzeitig erklang eine Stimme, die wie das Licht keinen erkennbaren Ursprung hatte.
    »Hiermit werden alle Kunden aufgefordert, unverzüglich den Supermarkt zu verlassen.« Ein Mann schien diese Worte zu sprechen, aber es war bestimmt kein gewöhnlicher Mann,
fand Benjamin. Wenn Schicksal und Verhängnis eine Stimme hatten, dann musste sie so klingen: voller Autorität, von Zweifel unberührt und nicht den geringsten Widerspruch zulassend. »Wir stellen massive Verstöße gegen die Regeln der Golden-Globe-Supermärkte fest und sehen uns gezwungen, energische Gegenmaßnahmen zu ergreifen.«
    »Wo ist der Hinterausgang?«, stieß Benjamin hervor.
    Louise trat über den Bewusstlosen am Boden hinweg und streckte den Arm aus. »Dort drüben.«
    »Füll dir die Taschen!«, rief Benjamin, um das schnell anschwellende Sirren zu übertönen, das aus allen Richtungen kam. »Und dann nichts wie weg!«
    Innerhalb von nur wenigen Sekunden wurde das Licht so hell, dass es blendete. Benjamin griff blindlings in die Regale und

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