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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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ihre Hände plötzlich leer waren.
    Das weiße Leuchten gewann eine solche Intensität, dass Benjamin die Augen zusammenkneifen musste, und er beobachtete, wie Jasmin ebenso transparent wurde wie zuvor die Waffen. Die Regale und ihr gesamter Inhalt wirkten plötzlich wie aus Glas. Für einen Sekundenbruchteil sah Benjamin die Umrisse der Organe in Jasmins Bauchhöhle und der Lungenflügel hinter den Rippen. Dann sprang er an ihr vorbei, packte Louise mit einer Hand, in der sich die Knochen abzeichneten, und stürzte mit ihr der Tür des Hinterausgangs entgegen. Es handelte sich um einen Notausgang, und zum Glück war die Tür nicht abgeschlossen. Benjamin und Louise wankten in die kühle Nacht hinaus. Heiße Luft und grelles Gleißen folgten ihnen zur Tankstelle, die Hannibals Patrouillenwagen mit Benzin versorgte, und als sich Benjamin dort umdrehte, verschwand der Supermarkt in einem weißen Strahlen, das in seinem Kern einen silbernen Ton gewann. Für einen Augenblick glaubte Benjamin, die gewaltige Maschine zu sehen, nicht einige wenige Zahnräder, die sich wie schwerfällig drehten, sondern einen ganzen Wald aus Rädern und Stangen, jede einzelne Komponente – und davon gab es Millionen – mit ihrem eigenen Bewegungsmoment. Dann verblasste das Gleißen allmählich,
und dahinter wurde der Parkplatz sichtbar. Gestalten bewegten sich dort, zwischen anderen, die reglos auf dem Boden lagen.
    Benjamin starrte auf seine Hand – die Knochen waren nicht mehr zu sehen.
    »Weg von hier, bevor sie uns bemerken«, sagte er und lief zusammen mit Louise los.

47
    Das Hotel Gloria war so hell erleuchtet wie in jener Nacht, als Benjamin es zum ersten Mal gesehen hatte, aber es ertönten weder Stimmen noch Musik. Stille herrschte auch in diesem Teil der Stadt, und es war eine Stille, die wortlos und stumm von Zerstörung und Tod erzählte. Leichen lagen auf der Zufahrt, ihre Kleidung blutig, ihre Schusswunden bereits halb geschlossen. Die Treppe vor dem Eingang war von Glassplittern zerschossener Fenster übersät, und von den fünf goldenen Sternen über der großen Tür war nur noch der eine übrig, den man mit goldener Farbe ergänzt hatte.
    Benjamin und Louise näherten sich vorsichtig und blieben vor der untersten Stufe stehen, neben der Leiche einer molligen Frau, die ein zitronengelbes Kostüm und türkisfarbene Schuhe trug. Die Tote lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, und deutlich waren die Sommersprossen auf der verschrammten Wange und der Nase zu sehen.
    »Es hat Abigale erwischt«, sagte Benjamin.
    »Wir könnten sie ins Hospital bringen.« Louise deutete auf
die anderen Toten. »Sie alle, einen nach dem anderen. Dort würden sie sich schnell erholen. Schon morgen wären sie wieder auf den Beinen.«
    Benjamin schüttelte den Kopf. »Es würde viel zu lange dauern. Bestimmt sind nicht alle Gemeinschaftsmitglieder tot. Früher oder später würden wir Überlebenden begegnen, unter ihnen vielleicht Hannibal, und die sind bestimmt nicht gut auf uns zu sprechen.«
    »Wir könnten ihnen erklären, dass Dago gelogen hat«, sagte Louise, aber es klang hilflos.
    »Und wer würde uns glauben?«
    Louise zuckte die Schultern.
    »Der Zugang zum Labyrinth befindet sich in einem der Lagerhäuser hinter dem Hotel«, sagte Benjamin. »Komm.«
    »Warte.« Louise sah zum Eingang des Hotels und schien mit sich selbst zu ringen. »Zuerst hole ich mir mein Lebensbuch.«
    Sie trat an Abigale vorbei auf die erste Treppenstufe und wich einer Blutlache aus.
    »Du weißt doch gar nicht, wo es sich befindet.« Benjamin spürte, dass die Zeit drängte. »Es hat nicht in Hannibals Nachtschränkchen gelegen, das hast du selbst gesagt.«
    »Entweder ist es in seiner Suite oder im Nebenzimmer des Büros. Weggeworfen oder verbrannt hat er es bestimmt nicht, der Mistkerl.«
    Benjamin folgte Louise widerstrebend ins Hotel, obwohl alles in ihm danach drängte, so schnell wie möglich ins Labyrinth hinabzusteigen. In der Lobby lagen weitere Leichen, einige auf dem Boden, alle viere von sich gestreckt, andere in den Sesseln der Sitzecken. Im Aufenthaltsraum war eine
Frau in mittleren Jahren unter einen Tisch gekrochen und dort offenbar von einem Querschläger getroffen worden. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Leere, und auf ihrem Gesicht zeigte sich eine Mischung aus Überraschung und Empörung.
    Louise eilte die Treppe hoch und geriet außer Sicht. Benjamin ging langsamer, vorbei am von Kugeln durchlöcherten Empfangstresen und

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