Die Stadt - Roman
wirft.«
»Wenn Hannibal erfährt, dass du mich gewarnt hast …« Benjamin sah zum Mann mit der Geige.
»Der Geiger sagt nichts«, erwiderte Velazquez. »Und was mich betrifft … Ich habe dich nicht gesehen.«
Benjamin klopfte ihm kurz auf die Schulter und wollte sich abwenden, aber dann zögerte er. »Wir verlassen die Stadt, Louise und ich. Du könntest mitkommen.«
Velazquez lächelte schief. »Ich warte lieber, bis die Aliens ihre Experimente beenden und uns holen. Wer weiß, vielleicht ist es jetzt so weit. Wenn der Supermarkt verschwunden bleibt, wenn es mit der ganzen Stadt bergab geht … Vielleicht bedeutet es, dass die Aliens bald kommen und uns zurückbringen.«
»Glaubst du das wirklich?«
Velazquez’ Lächeln wurde etwas größer und zeigte seine perlweißen Zähne. »Was meinst du?« Er wurde wieder ernst. »Es wird geschehen, was geschehen wird. Ich kann nichts daran ändern.«
»Du könntest mit uns kommen«, wiederholte Benjamin.
»Hannibal erwischt dich, wenn du noch mehr Zeit vergeudest, Kumpel.«
»Na schön. Mach’s gut, Velaz«, sagte Benjamin und lief durch den Flur.
Louise war ganz offensichtlich in Hannibals Suite gewesen, denn im dortigen Schlafzimmer lagen die Schubladen des Nachtschränkchens auf dem Boden, und ihr Inhalt war verstreut. »Louise?«
In der Stille waren nur leise Geigenklänge zu hören, durch zwei Stockwerke gedämpft. Das Büro, dachte Benjamin, machte kehrt und lief erneut durch Flure, in denen Leichen lagen. Kugeln hatten Löcher in Türen geschlagen und Dellen in Wänden hinterlassen.
Als Benjamin das Büro erreichte, in dem er mit Hannibal und Abigale gesprochen hatte, in der Nacht nach seiner Ankunft in der Stadt, hörte er ein leises Wimmern und sah jemanden, der beim kleinen Tisch in der Ecke hockte, einen hageren, ausgemergelten Mann, die Brille mit den dicken Gläsern schief auf der Nase. Verängstigt hockte er da und drückte sich das große Protokollbuch mit beiden Armen an die Brust, als sei es sein wertvollster Besitz. Er sah nicht auf, als Benjamin hereinkam, krümmte sich nur noch mehr zusammen und wimmerte etwas lauter.
Auf der rechten Seite war der Vorhang beiseitegezogen, und die schmale Tür stand offen.
Benjamin betrat das Nebenzimmer mit der Tafel und den Stecknadeln. Louise saß in dem durchgesessenen Sessel und las in einem lindgrünen Buch, das vermutlich aus dem Regal über ihr stammte. Lebensmittel aus dem Supermarkt beulten die Taschen ihrer Jeans und der Jacke aus.
»Louise?«
Sie war bleich, und ihre Augen verschlangen die Worte in dem Buch.
»Wir müssen weg von hier, Louise. Hannibal und die anderen
sind unterwegs. Wenn sie uns erwischen, werfen sie uns ins Loch.«
»Er hat es hierhergebracht«, sagte die junge Frau. »Er hat es zu den anderen gestellt.« Sie deutete zum Regal hoch, zu den anderen lindgrünen Büchern. »Vielleicht hatte er genug. Oder Abigale hat ein Machtwort gesprochen.«
»Hast du gehört, Louise?« Benjamin trat näher. »Wenn Hannibal mit den anderen Überlebenden hier eintrifft, müssen wir weg sein. Komm.« Er streckte die Hand aus.
»Mein Leben war schrecklich.« Louise blätterte erneut. Sie weinte nicht, aber Benjamin sah Kummer und Schmerz in ihren Augen. »Es war noch viel schrecklicher, als ich dachte. Weißt du, manchmal meint es das Gedächtnis gut mit uns und legt gewisse Dinge in dunklen Ecken ab, wo man sie nicht so leicht wiederfindet. Aber hier steht alles, jede kleinste Kleinigkeit. Und wenn ich daran denke, dass sich Hannibal Nacht für Nacht daran aufgegeilt hat …«
Benjamin zog ihr das Buch aus der Hand. »Komm jetzt, wir müssen gehen!«
Louise sprang auf und griff nach dem Buch. »Dies ist nichts für dich. Es gehört mir.« Sie ließ das lindgrüne Lebensbuch unter ihrer zerrissenen Jacke verschwinden.
Benjamin ergriff ihre Hand, zog sie ins Büro, wo noch immer Jonas vor sich hin wimmerte, und von dort aus in den Flur. Anschließend ging es die Treppe hinunter in die Lobby, vorbei an den Toten und nach draußen in die kühle Nacht.
Stimmen kamen von der Straße.
Benjamin und Louise eilten an der Vorderfront des Hotels vorbei und wichen der Leiche eines bis auf die Knochen abgemagerten Streuners aus. Er trug geflickte Sachen, die ihm
zu groß waren und mehrere Schusslöcher aufwiesen. Blut klebte im langen zerzausten Haar.
Der Parkplatz hinter dem Gloria lag in völliger Dunkelheit. Es war nicht zu erkennen, ob vor dem Lagerhaus mit dem Zugang zum Labyrinth noch
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