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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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geworden ist«, sagte Louise, als sie das dritte Zimmer betraten. »Sie sind alle hier. Vielleicht hat das dunkle Wesen mit deinem Gesicht sie hierhergebracht.«
    Standuhren waren an der linken, schiefergrauen Wand in diesem über hundert Quadratmeter großen Raum aufgereiht. Bei manchen von ihnen hingen die langen Pendel gerade, bei anderen waren sie nach links oder rechts geneigt, und es tat dem Blick des Beobachters weh, weil er damit rechnete – weil die Gesetze von Logik und Schwerkraft es verlangten –, dass die betreffenden Pendel ihre begonnene Bewegung zu Ende führten. An den übrigen Wänden zeigte sich das Sammelsurium aus analogen und digitalen Uhren,
das sie aus den beiden anderen Zimmern kannten. Manche von ihnen steckten in staubigen gläsernen Gehäusen; andere präsentierten ihre feinmechanischen Eingeweide. Die Zifferblätter wirkten in vielen Fällen verschwommen, wie nicht ganz vorhanden, aber die Zeiger – aus schwarzem Kunststoff, angelaufenem Kupfer oder rostigem Eisen – hatten klare Konturen. Keiner von ihnen bewegte sich. Stille hing in den Zimmern, deren Grau an den Nebel erinnerte, eine Stille, die Anspannung vermittelte und in Benjamin den Eindruck erweckte, als wartete sie auf etwas.
    Das vierte Zimmer, noch etwas größer als das dritte, war voller Armbanduhren, von billiger, bunter Plastikware bis hin zu teuren, luxuriösen Einzelanfertigungen. Sie stapelten sich an den Wänden, hingen in dicken Trauben von der Decke herab und bildeten meterhohe Haufen auf dem Boden. Als Benjamin die Hand nach einer von ihnen ausstreckte, stellte er fest, dass er sie nicht berühren konnte, und bei genauerem Hinsehen machte er die Entdeckung, dass sie sich auch untereinander nicht berührten. Jede Uhr war von allen anderen getrennt, auch wenn die Abstände nicht einmal genug Platz für ein Haar ließen.
    »Nichts hält sie«, sagte Benjamin und deutete auf einen Haufen. »Jede von ihnen schwebt, und nirgends kommt es zu einem Kontakt. Man könnte meinen, jede Uhr befände sich in ihrem eigenen kleinen Universum, ohne Verbindung zu den anderen.«
    Sie gingen weiter, von Zimmer zu Zimmer, und gaben es bald auf, sie zu zählen. Woher das Licht kam – hier nicht gelbweiß wie im Saal der Gläsernen, sondern fast so grau wie die Wände –, blieb ein Rätsel, aber daran vergeudete Benjamin
ohnehin keinen Gedanken mehr. Seine Überlegungen galten ganz anderen Dingen.
    Zum Beispiel … den Veränderungen, die er nach und nach bei den Zimmern bemerkte. Zuerst waren es offene Torbögen, durch die sie von einem Raum in den nächsten gelangten, und bald wurden kurze Flure daraus, mit Schlangendarstellungen an den Wänden, die er bereits von den Denkmälern der Stadt kannte. Manchmal zeigten die verblassten Bilder auch einen Mann, der eine Art Rüstung trug und in der einen Hand ein blutiges Schwert hielt, in der anderen den Kopf einer großen Schlange oder vielleicht eines Drachen. Neben diesen Bildern in den Fluren gab es gelegentlich Gruppen von Schriftzeichen, doch so sehr sich Benjamin auch auf sie konzentrierte, diesmal ordneten sie sich nicht zu verständlichen Buchstaben.
    »Woher kommen all diese Uhren?«, fragte Louise in einem weiteren Zimmer, vielleicht dem hundertsten, durch das sie wanderten. Diesmal waren die meisten Uhren digital und zeigten nicht nur die Zeit, sondern auch das Datum. Die Angaben reichten von »13. 07. 1881« bis »05.04.2021«.
    »Die Zeit in der Stadt ist asynchron, hat Hannibal gesagt«, erwiderte Benjamin. »Er meinte, eine Minute hier könnte in der Welt unseres Lebens Tage oder Wochen entsprechen. Er wies auch darauf hin, dass Menschen aus unterschiedlichen Epochen in die Stadt kamen, und er erwähnte jemanden aus dem neunzehnten Jahrhundert, der nach wenigen Wochen verschwand.«
    Louise blieb in der Mitte des großen Zimmers stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Benjamin, wellenförmige Bewegungen
zu erkennen, die von ihr ausgingen und sich im grauen Licht ausbreiteten, wie zuvor die Kräuselungen in der quecksilberartigen Membran. »Lebensuhren?«, fragte sie. »Glaubst du, dies alles könnten Lebensuhren sein? Oder Todes uhren?«, fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu.
    »Laurentius hat Menschen erwähnt, die früher in der Stadt lebten und sie dann verließen. Und dann wären da noch die anderen Städte, deren Lichter wir gesehen haben. Vielleicht sind das hier …« Benjamin machte eine Geste, die nicht nur

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