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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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dem Zimmer galt, in dem sie sich gerade befanden, sondern auch allen anderen. »… die Uhren aller Menschen, die jemals gestorben sind.«
    »Es gibt hier verdammt viele Uhren«, räumte Louise ein. »Aber ob es so viele sind … Wie viele Menschen haben jemals auf der Erde gelebt?«
    »Etwa hundert Milliarden«, sagte Benjamin, der sich erinnerte, darüber gelesen zu haben. Die Zeit ist hier asynchron, wiederholte er in Gedanken und spürte, wie eine Verbindung zu der Wahrheit entstand, die er in einen dunklen Winkel seines Selbst verbannt hatte und die immer wieder versuchte ins Licht zu kriechen. Die zeitlichen Abläufe stimmen nicht überein, flüsterte es in ihm. Jahre vergehen, obwohl an einem anderen Ort nur Sekunden verstreichen.
    »So viele können es nicht sein«, sagte Louise und sah sich erneut um. »Einige Millionen vielleicht, wenn’s hoch kommt …«
    »Wer weiß, wie viele Zimmer es noch gibt«, entgegnete Benjamin und fügte dann den einen Gedanken hinzu, der ihn ebenfalls schon seit einer ganzen Weile beschäftigte. »Und wer weiß, wo wir sind.«

    Louise nickte. »Ich schätze, dies hat nicht mehr viel mit Route siebzehn zu tun, oder?«
    »Wohl kaum«, bestätigte Benjamin und war froh, nicht auf seine Lüge eingehen zu müssen.
    »Und wie kommen wir hier raus, wohin auch immer?«
    Es war eine Frage, die während der nächsten beiden Tage im Labyrinth der Uhrenzimmer immer mehr an Aktualität gewann, weil allmählich ihre Vorräte zur Neige gingen. Ihre Rucksäcke wurden leichter und erinnerten sie daran, dass sich immer weniger Konserven darin befanden, und als sich am Ende des zweiten Tages noch immer kein Ausgang zeigte, begannen sie damit, ihr Wasser zu rationieren. Manchmal gab es in den Fluren Abzweigungen, aber sie führten nur in andere Teile des Uhrenlabyrinths – in manchen Räumen lag der Staub zentimeterdick, in anderen schien gerade jemand saubergemacht und alle Uhren geputzt zu haben.
    Als ihnen nur noch eine Plastikflasche mit Wasser blieb, fanden sie die Tür.
    Sie war schwarz wie die im Saal mit den gläsernen Menschen, aber es schien eine normale Tür zu sein, eingelassen in eine Wand und gesäumt von zwei großen Standuhren mit besonders langen, wuchtigen Pendeln, das eine nach links geneigt, das andere nach rechts. Doch als Benjamin versuchte sie zu öffnen, blieb sie geschlossen. Er drückte die Klinke, rüttelte und zog, aber die Tür öffnete sich nicht.
    Louise setzte sich auf den Boden, öffnete ihren Rucksack und entnahm ihm die letzte Dose, die ausgerechnet Sauerkraut enthielt.
    »Na prächtig«, sagte sie. »Sauerkraut und warmes Wasser.
Was kann man sich mehr wünschen? Es ist angerichtet, der Herr.«
    Benjamin wandte sich von der Tür ab und stieß dabei gegen die linke Standuhr. Sie wackelte kurz und knarrte dabei.
    »Ich habe sie berührt«, sagte er.
    Louise trank Wasser, langsam, in kleinen Schlucken, und zuckte dabei die Schultern.
    »Die anderen Uhren konnten wir nicht berühren, aber diese …«
    Benjamin streckte die Hand nach dem schiefen Pendel der Uhr aus, und diesmal gab es keine unsichtbare Barriere, die einen Kontakt verhinderte. Das Pendel, glatt und kalt wie Eis, bewegte sich mit einem Knarren, das leiser war als zuvor das der Uhr, schwang in die Vertikale und darüber hinaus zur anderen Seite, kehrte zurück …
    Tick, machte es, und es folgte ein Tack, dumpf und unheilvoll.
    Für einen Augenblick, oder vielleicht auch für zwei, herrschte Stille.
    Tick, machte es dann erneut, und diesmal fand das Geräusch an anderen Stellen im Raum Echos. Sekundenzeiger bewegten sich, rückten nach langer Rast einen Strich weiter. Tick . Minutenzeiger zitterten, als könnten sie es gar nicht abwarten, sich endlich aus ihrer Starre zu lösen. Stundenzeiger schliefen noch, bemerkten aber die plötzliche Aktivität und bereiteten sich aufs Erwachen vor.
    Tick-tack , machte es. Tick-tack, tick-tack .
    Die Uhren weckten sich gegenseitig. Waren es erst vereinzelte Zeiger, die über verschwommene, nicht genau zu erkennende – weil nur ihre Schatten hier waren, während sich
die Originale in der Stadt befanden?, überlegte Benjamin – Zifferblätter krochen, so wurden es schnell immer mehr, und das Ticken nahm an Lautstärke ständig zu, schwoll zu einem akustischen Orkan an, der durch die endlos vielen Zimmer des Uhrenlabyrinths fegte. Louise rief etwas, vielleicht schrie sie sogar, aber Benjamin sah nur, wie sich ihr Mund bewegte. Er hörte keinen Ton von ihr, denn

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