Die Stadt - Roman
alles verlor sich in dem Donnern Tausender oder gar Millionen schlagender Uhren, deren Zeiger die Zeit in kleine Stücke schnitten.
Er hielt sich die Ohren zu, und zuerst half das, zumindest ein wenig, aber das millionenfache Tick-tack erreichte eine solche Intensität, dass der Boden unter ihm zitterte und die Vibrationen des Geräuschs seinen ganzen Körper durchdrangen. Louise lief zur Tür und versuchte sie zu öffnen, doch bevor Benjamin erkennen konnte, ob ihre Bemühungen erfolgreich waren, wurde ihm plötzlich schwarz vor Augen. Der Lärm der vielen schlagenden Uhren – beziehungsweise die Gefahr, davon überwältigt zu werden – schien in seinem Kopf einen Schalter umzulegen. Sein Bewusstsein floh, und die Erinnerungen, die die ganze Zeit über in ihm gelauert hatten, nutzten ihre Chance und fingen seine Aufmerksamkeit ein.
55
Regen peitschte ans breite Fenster und störte sogar die Stille in Townsends privatem Salon.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte der Leiter des Instituts,
blieb am Fenster stehen und beobachtete die dunklen Wolken. »So viel Regen in so kurzer Zeit. Die Erde kann ihn nicht aufnehmen. Verstehen Sie das, Benjamin?«
Benjamin verstand es natürlich, und im Gegensatz zu Townsend fand er, dass alles gut aussah. Bei einem solchen Wetter kamen keine Besucher. Der Regen würde die Straße durch die Berge aufweichen, und vielleicht kam es sogar zu Erdrutschen. Während der nächsten Stunden – bestimmt die ganze Nacht und vielleicht auch einen Teil des Tages – würde das Institut isoliert sein.
Die Zeit war gekommen.
Benjamin lächelte, zufrieden darüber, dass er seinen Plan ausführen konnte. Townsend verstand das Lächeln falsch.
»Oh, natürlich verstehen Sie das«, sagte er, wandte sich vom Fenster ab und ging zum Kamin, in dem ein wärmendes Feuer brannte. Es war kalt geworden. Benjamin beobachtete die Flammen fasziniert; sie schienen ebenfalls zu lächeln, als wüssten sie, was geschehen würde. »Immerhin geht es Ihnen viel besser, nicht wahr?«
»Es geht mir gut«, sagte Benjamin.
»Wissen Sie, was wir mit Ihnen gemacht haben?« Townsend stand da, die Hände dem Feuer entgegengestreckt, und kehrte ihm den Rücken zu. Benjamin glaubte, den Gegenstand in seiner Tasche zu fühlen, obwohl er ihn nicht berührte, und er fragte sich, ob er jetzt sofort handeln sollte. Doch etwas ließ ihn zögern. Vielleicht wollte ein Teil von ihm den Augenblick genießen.
»Sie haben mich geheilt.«
Townsend lachte leise. »Noch nicht ganz. Wir haben Sie zu einem neuen, besseren Menschen gemacht, Benjamin. Es
fehlen noch einige Stücke, aber die werden wir nach und nach hinzufügen.« Townsend warf ihm einen kurzen Blick zu. »Es freut mich, dass wir Freunde geworden sind, Benjamin. Das macht alles noch besser.«
Du hast Françoise umgebracht, dachte Benjamin, während er lächelte. Wir sind keine Freunde. Wir hätten es nie sein können.
»Als man Sie zu uns brachte, herrschte in Ihrem Kopf ein ziemliches Durcheinander«, sagte Townsend und wärmte sich am Feuer. Er sprach jetzt fast wie mit sich selbst. »Sie haben Schlimmes angerichtet, Benjamin. Erinnern Sie sich daran?«
Er versuchte sich daran zu erinnern, hörte aber das Rauschen des Winds in hohen Baumwipfeln und sah ein Gesicht, das ihn voller Hoffnung ansah. Kattrin.
»Ich höre den Wind«, sagte er, weil er wusste, dass Townsend es von ihm erwartete. »Und ich sehe das Gesicht meiner Frau.«
Diesmal wandte sich Townsend nicht zu ihm um, aber Benjamin sah trotzdem sein Schmunzeln.
»Das ist gut, Benjamin«, sagte er. »Das ist sehr gut. Wissen Sie, die wahre Bedeutung Ihrer Heilung – nennen wir es mal so – geht über Ihren individuellen Fall hinaus. Natürlich freut es mich auf einer persönlichen Ebene, dass es Ihnen so viel bessergeht, aber es freut mich auch , dass wir an Ihrem Beispiel die Wirksamkeit der von mir entwickelten neuen Behandlungsmethode gezeigt haben.« Er drehte den Kopf und lächelte auf eine andere Weise, nicht herablassend, aber gönnerhaft und selbstzufrieden. »Sie werden der Wissenschaft neue Horizonte erschließen, Benjamin. Darauf können
Sie stolz sein. Zumindest in diesen Minuten, denn nachher werden Sie dieses Gespräch natürlich vergessen, wie alles andere, damit Sie ganz der neue Benjamin Harthman sein können.«
»Warum darf ich mich nicht an alles erinnern?«, fragte Benjamin und trat etwas näher. Der Moment war fast da.
»Weil bestimmte Erinnerungen Sie nur belasten würden«,
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