Die Stadt - Roman
Aliens haben uns entführt und beobachten, wie wir hier zurechtkommen.«
»Zu welchem Zweck?«, fragte Benjamin.
Velazquez hob und senkte die Schultern. »Was weiß ich? Kann ich den Aliens in die Köpfe sehen? Wenn sie überhaupt Köpfe haben.«
»Ich nehme an, das ist nicht die einzige alternative Theorie«, sagte Benjamin vorsichtig.
»Nein. Kowalski glaubt, dass wir in einem Moment gedehnter Zeit leben. Wenn man ihn danach fragt, brabbelt er von Atompilzen, Unschärferelationen und Quanten. Seiner Ansicht nach hat ein Atomkrieg die Welt vernichtet, und an einigen Stellen war die Energiedichte so hoch, dass wir zwar gestorben sind, unsere Seelen – unsere Quantensignaturen, wie er es nennt – aber auf ein höheres energetisches Niveau gehoben wurden. Er hält unsere Existenz …« Eine Veränderung des Tonfalls machte deutlich, dass Velazquez zitierte. »… für subjektiv unendlich und objektiv real.«
»Ich verstehe«, sagte Benjamin nach einem Augenblick. »Gedehnte Zeit. Relativismus. Dilatation.«
Der kleinere Velazquez sah argwöhnisch zu ihm hoch. »Gehörst du zum gleichen Club?«
»Club?«
»Kowalski behauptet, Astrophysiker gewesen zu sein. Und du? Was bist du in deinem Leben gewesen?«
»Ich war …«, begann Benjamin, und dann schwieg er, weil er nicht wusste, was er gewesen war. Er entsann sich an die
Firma und an Projekte, doch mehr fiel ihm nicht ein. »Wie seltsam. Ich erinnere mich nicht.«
Sie kamen an einem Wohnhaus vorbei, dessen untere Fenster alle dunkel waren. Eins von ihnen öffnete sich plötzlich, und ein Arm streckte sich Benjamin entgegen, ohne dass er den Körper sehen konnte, zu dem er gehörte. Die Hand hielt einen Zettel, auf dem etwas geschrieben stand. Die Finger verdeckten den Text, bis auf die ersten beiden Worte: Du musst …
»Stimmt was nicht?«
Benjamin merkte, dass er stehen geblieben war und auf das dunkle Fenster starrte, das sich gar nicht geöffnet hatte. Velazquez klopfte ihm auf den Rücken.
»Keine Sorge, es fällt dir bestimmt alles wieder ein. Du bist gerade erst gestorben. So was nimmt einen mit. Ich habe eine ganze Woche gebraucht, bis ich wieder einigermaßen klar im Kopf war, und manche schaffen das nie. Wie zum Beispiel Kowalski. Aber vielleicht war der auch schon vorher übergeschnappt.«
Als sie den Weg fortsetzten, glitt Benjamins Blick immer wieder über die Fenster zu beiden Seiten der Straße, aber nichts bewegte sich dort. Warum konnte er sich nicht daran erinnern, welchem Beruf er nachgegangen war? Und was hatte es mit dem Zettel und der Botschaft auf sich?
»Die Apothekerin Emily stammt aus Genf und ist dort nach eigenen Angaben im Jahr 2012 gestorben«, fuhr Velazquez fort. Er sprach noch immer im Plauderton, als nähme er seine eigenen Worte nicht ganz ernst. »Sie glaubt, dass die ganze Erde von einem kleinen Schwarzen Loch verschlungen worden ist, das bei einem Zwischenfall im Kernforschungszentrum
CERN entstand. Ihrer Meinung nach befinden wir uns hier dicht hinter dem Ereignishorizont ebenjenes Schwarzen Lochs. Du solltest Emily und Kowalski miteinander reden hören, wenn sie im Gloria zusammenhocken, am besten nach ein paar Gläsern von Emilys Medizin. Für die Show könnte man Eintrittskarten verkaufen.« Velazquez schüttelte den Kopf. »Die Leute glauben die verrücktesten Sachen. Ich fürchte, die Aliens müssen zu dem Schluss gelangen, dass wir nicht besonders intelligent sind.«
»Hältst du es nicht für verrückt, an Aliens zu glauben?«, fragte Benjamin.
Voraus knickte die Straße nach rechts ab, und Licht drang hinter der Ecke hervor, strich über alten Asphalt, auf dem nur noch hier und dort einige feuchte Flecken an den Regen erinnerten. Velazquez blieb am Bordstein stehen, dicht neben einer Pfütze, deren schmutziges Wasser langsam in einem halbverstopften Abfluss verschwand.
»Kleiner Crashkurs für das Überleben nach dem Tod gefällig? « Seine Stimme klang jetzt anders, ernster und auch bitterer. »Die Leute glauben wirklich die verrücktesten Sachen, und wenn man einige verrückte Ideen beisteuert, wird man für einen von ihnen gehalten. Die Leute wollen sich an etwas festhalten, Benjamin. Sie brauchen etwas, das ihnen Halt gibt. Und Hannibal und Abigale geben vielen Mitgliedern der Gemeinschaft Halt. Andere sind hier, weil … Nun, weil es hier besser ist als dort draußen, wo man auf sich allein gestellt ist und riskiert, von den Streunern geschnappt zu werden. Wie gesagt, ich glaube nicht an den Humbug
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