Die Stadt - Roman
nach einigen Metern zurücksah, war der Abfallkorb wieder leer.
Einige Minuten später, in der Heimwerkerabteilung, in der Velazquez Farben für seine Bilder aussuchte, begegneten sie den beiden Wächtern im Inneren, die ihre Runde machten. Velazquez wechselte einige Worte mit den Männern, die bewaffnet waren, einer mit einer kleinen Pistole, die fast wie ein Spielzeug wirkte, der andere mit einem altertümlichen Revolver. Sie nickten Benjamin freundlich zu und setzten ihre Patrouille fort.
Als sie im nächsten Gang verschwunden waren, fragte Benjamin: »Warum ist der Supermarkt auch nachts geöffnet? Wir scheinen die einzigen Kunden zu sein.« Er hatte nach Louise Ausschau gehalten, aber sie schien ihren Belohnungsbesuch im Supermarkt bereits hinter sich zu haben. »Wenn man ihn nachts schließen würde, wären nicht so viele Wächter nötig. Und man könnte Strom sparen. All das Licht …«
Velazquez drehte eine Farbtube auf und roch daran. »Wenn du glaubst, dass der Strom hier, wie im Gloria, von einem Generator kommt, so irrst du dich. Im Supermarkt gibt es immer Elektrizität. Auch außerhalb der Elektrostunden im Zentrum fließt hier ständig Strom. Woher er kommt? Keine
Ahnung, Mann. Man müsste die Leitungen ausbuddeln, um es herauszufinden, aber das will Hannibal nicht. Vielleicht fürchtet er, dass sich jemand über unsere Neugier ärgert und den Laden dichtmacht.« Er drehte die Tube zu und steckte sie ein; seine Hosen- und Jackentaschen waren bereits gut gefüllt. »Abigale hat einmal erzählt, dass man vor vielen Jahren versucht hat, den Supermarkt nachts zu schließen. Aber es klappt nicht. Er öffnet sich selbst wieder. Wenn man das Licht ausschaltet, geht es nach spätestens zehn Minuten wieder an. Wenn man die Türen abschließt, entriegeln sie sich nach einer Weile selbst. Die goldene Fundgrube will rund um die Uhr geöffnet bleiben. Mir soll’s recht sein.«
In der Getränkeabteilung fehlten Spirituosen, und die Regale wiesen Lücken auf. »Hier erneuert sich der Bestand nur einmal pro Woche«, sagte Velazquez. Er holte eine Plastiktüte hervor und füllte sie mit Bierdosen. »Und es gibt nichts Hochprozentiges. Das ist einer der Gründe, warum Emilys Geschäfte so gut gehen. Ihre Medizin erfreut sich großer Beliebtheit, und sie erkauft sich damit Zugang zum Supermarkt.«
»Gehört sie nicht zur Gemeinschaft?«
»Sie hat sich dagegen entschieden, als Hannibal sie aufforderte, mit dem Schnapsbrennen aufzuhören. Im Supermarkt gibt’s keine Spirituosen, und deshalb hält er hochprozentigen Alkohol für einen weiteren Stolperstein auf dem Weg zum Paradies. Was ihn und seine Anhänger allerdings nicht daran hindert, sich von der Apothekerin Schnaps ›schenken‹ zu lassen und ihr dafür Besuche im Supermarkt zu erlauben. Die typische Doppelmoral solcher Frömmler, wenn du mich fragst«, kommentierte Velazquez, senkte dabei aber die Stimme. »Hannibal und Abigale geht es um Quote und Durchschnitt,
und sie folgen dabei einer Logik, die ich schon damals nicht nachvollziehen konnte, als sie sie mir erklärt haben. Darum sind sie auch so scharf auf Neue wie dich. Sie hoffen, die Tugendhaftigkeit der Gemeinschaft irgendwie auf ein solches Niveau heben zu können, dass der Nebel verschwindet und sich die Pforten des Paradieses öffnen. Oder so ähnlich. Ich hab den Versuch aufgegeben, es zu verstehen, Kumpel.« Es zischte, als er eine Bierdose öffnete. »Möchtest du auch eine?«
Benjamin wollte aus reiner Angewohnheit den Kopf schütteln, aber dann dachte er: Ach, was soll’s. Es zischte erneut, und er trank. Das Bier hatte genau die richtige Temperatur und schmeckte köstlich. Er erinnerte sich an Louises Worte: Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist bereits passiert. Er lächelte, zum ersten Mal seit seinem Tod, und ging weiter, sah sich die Auslagen an, hörte die Musik, fühlte sich ein wenig schuldig wegen des Biers, hörte weiter hinten Velazquez’ Stimme … und merkte erst nach einigen Sekunden, dass etwas in ihm den Rückzug antrat. Es fühlte sich an, als ginge er auf Distanz zu sich selbst – ein Teil von ihm schien zurückzuweichen und zu einem Beobachter zu werden, dessen Blickfeld allerdings eingeschränkt war und sich weiter verengte. Zuerst schob er es aufs Bier, aber er hatte nur einige wenige Schlucke getrunken. Entweder war dieses Bier außergewöhnlich stark, doch so schmeckte es eigentlich nicht, oder es geschah etwas anderes mit ihm. Für ein oder zwei Sekunden
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