Die Stadt - Roman
von Himmel und Hölle, aber das ist auch gar nicht nötig, solange ich mich an die Regeln halte.«
»Woraus bestehen diese Regeln?«, fragte Benjamin.
»Es läuft darauf hinaus, dass alle tun, was Hannibal und Abigale sagen. Oh, einmal im Monat findet eine Versammlung statt, und dann werden gemeinsam wichtige Entscheidungen getroffen, aber die Beschlüsse sehen immer so aus, wie es insbesondere Hannibal gefällt. Der Bursche hat Charisma, kein Zweifel. Und er kann gut reden. Er versteht es, den Leuten Hoffnung zu geben. Hoffnung darauf, den Himmel zu erreichen, das Paradies. Wir sitzen in dieser Stadt fest, Benjamin. Niemand kann sie verlassen. Der Nebel und die Kreaturen darin verhindern das. Hannibal will auch gar nicht, dass jemand versucht, aus der Stadt zu entkommen. Das ist eine der Regeln: Niemand versucht die Stadt zu verlassen; es wird nicht einmal darüber geredet.«
»Zu entkommen?«, wiederholte Benjamin und fröstelte plötzlich trotz des Parkas.
»Ein Paradies ist dies gewiss nicht, da haben Hannibal und Abigale Recht. Aber die Hölle? Wer weiß? Kommt darauf an, was man sich darunter vorstellt. Dort draußen jenseits der Gemeinschaft lebt es sich schlecht. Von den Streunern einmal ganz abgesehen: Die Unabhängigen müssen auf vieles verzichten, das wir dank des Supermarkts haben. Deshalb bin ich geblieben, obwohl ich nicht daran glaube, dass hier jemand darüber entscheidet, ob wir gut genug für den Himmel oder böse genug für die Hölle sind. Die Stadt ist die Stadt, Benjamin. Wir haben nur sie. Niemand von uns wird älter, hast du das gewusst? Wir leben hier bis in alle Ewigkeit. Oder bis die Aliens beschließen, das Experiment zu beenden und uns zur Erde zurückbringen.«
Benjamin sah ihn groß an, aber dann lächelte Velazquez.
»Wenn wir hier eine Ewigkeit verbringen müssen, warum dann auf Bequemlichkeit verzichten? Im Supermarkt gibt es alles, was wir brauchen. Auch jede Mengen Farben und Leinwand für mich. Wer nicht zur Gemeinschaft gehört, hat keinen Zutritt. Mit anderen Worten, mein lieber Benjamin …« Velazquez klopfte ihm auf den Rücken. »Der Supermarkt ist Hannibals Macht. Ohne ihn wäre er nichts. Ohne ihn würde die Gemeinschaft vermutlich gar nicht existieren. Darum will niemand hinausgeworfen werden, denn dadurch verliert man den Zugang zum Supermarkt. Komm und bestaune den Heiligen Gral der Auserwählten.«
Velazquez erreichte die Ecke, trat ins Licht und breitete die Arme aus. »Ta-ta!«
Der Supermarkt
9
Eine weite, dunkle Asphaltfläche lag vor dem hell erleuchteten Supermarkt; Lampen schufen darauf Inseln des Lichts. Aber nicht ein einziger Wagen stand auf den von verblassten Linien markierten Parkflächen, und es gab nur wenige Ohren, die die Musik hörten – sie kam aus hoch an den Laternenpfählen angebrachten Lautsprechern und hallte durch die Nacht. Einige dieser Ohren gehörten bewaffneten Männern, die an einer Barriere etwa zehn Meter vor dem breiten Eingang des Supermarkts Wache hielten.
Velazquez winkte ihnen schon von weitem zu. »Ich bin’s«, sagte er und blieb kurz im Schein einer der Lampen stehen, damit ihn die Wächter erkennen konnten. »Das hier ist ein Neuer. Ich möchte ihm den Supermarkt zeigen. Abigale weiß Bescheid.«
Einer der drei Männer hinter der Barriere hob die Hand, und die beiden anderen nickten.
»Warum wird der Supermarkt bewacht?«, fragte Benjamin leise, als sie sich dem Eingang näherten.
»Die anderen Wächter hast du gar nicht gesehen«, erwiderte Velazquez. »Es sind jetzt immer zwanzig, sowohl am Tag als auch in der Nacht. Wegen der Streuner. Zwei sind
drinnen, und fünfzehn weitere stecken in den Gebäuden dort drüben, gewissermaßen als Einsatzreserve. Ich bin sicher, dass uns die Hälfte von ihnen gerade aufmerksam beobachtet. « Er winkte erneut und deutete eine Verbeugung an, erst nach rechts und dann nach links. In einem Fenster des Gebäudes auf der rechten Seite blitzte eine Taschenlampe auf. »Warum der Supermarkt bewacht wird? Damit niemand hineinkann, der nicht hineindarf. Was würde sonst aus Hannibals Macht?«
Er deutete zum hohen, langen Schild über dem Eingang. »GOLDEN GLOBE«, stand dort in großen goldenen Lettern, und darunter »Die goldene Fundgrube«.
»Alles in Gold«, sagte Velazquez. »Passt zum Gloria und seinen fünf goldenen Sternen. Aber ob wir eine goldene Zukunft haben, muss sich erst noch erweisen.«
Die Tür öffnete sich vor ihnen, als sie noch knapp zwei Meter davon entfernt
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