Die Stadt - Roman
leise röchelte und dann ganz still wurde.
Der Angreifer trat einen Schritt näher und richtete den Revolver auf Benjamin.
Bevor er abdrücken konnte, erschien einer der beiden Wächter am Ende des Gangs, und eine Pistole knallte. Der Mann zuckte zusammen, grunzte überrascht und drehte sich um. Benjamin hörte das rasende Hämmern seines Herzens, als er unter der Leiche hervorkroch und hinter das Bücherregal robbte. Etwas Feuchtes klebte an seiner Wange. Er tastete danach und merkte, dass es Velazquez’ Blut war.
»Besuchen Sie unsere Abteilung für schöneres Wohnen«,
sagte die sanfte Lautsprecherstimme. »Flauschige Teppiche für Ihr Wohnzimmer, Sessel zum Entspannen, Betten für angenehme Träume. Kaufen Sie jetzt und bezahlen Sie später, in bequemen Raten. Unsere Hausbank berät Sie gern. Kredit-Leicht-Gemacht, nur bei den Fundgruben von Golden Globe.«
Die in den Hintergrund gerückte Musik wurde wieder lauter, aber sie verlor sich in Geschrei und dem Krachen von Schüssen. Nicht weit entfernt polterte es, als ein Regal umstürzte, und als auch das Gestell mit den Büchern zu wackeln begann, krabbelte Benjamin auf Händen und Knien zum nächsten Korridor. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich Verkleidungselemente von der Decke lösten und Männer und Frauen durch die Öffnungen kletterten. Etwas surrte so dicht über ihn hinweg, dass er einen Luftzug spürte, und hinter ihm platzte eine Flasche Sirup. Glassplitter flogen in alle Richtungen, und klebrige Flüssigkeit tropfte auf Benjamin herab, rot wie Blut.
Der Supermarkt blutet, flüsterte ein Gedanke in ihm. Sie haben den Supermarkt verletzt.
Er duckte sich, als jemand ganz in der Nähe schoss. Instinktiv kniff er die Augen zusammen, und als er sie wenige Sekunden später wieder zu öffnen wagte, beobachtete er, wie die Glassplitter über den Boden krochen. Trotz der Schüsse und Schreie hörte er ein dumpfes Kratzen, als die Splitter zu dem Regal zurückkehrten, in dem die Flasche gestanden hatte, von der sie stammten. Wie in einer rückwärts abgespielten Aufnahme stiegen sie, der Schwerkraft trotzend, vom Boden auf, flogen hoch, trafen sich in einem Regalfach und fügten sich dort wieder zu einer Flasche zusammen. Der Sirup folgte ihrem Beispiel nicht, haftete an Benjamins Händen
und dem Parka, aber die Flasche, jetzt wieder heil und mit einem lächelnden Kindergesicht auf dem Etikett, blieb nicht leer. Von unten her und begleitet von einem leisen Knistern, als zerknüllte jemand Stanniolpapier, füllte sie sich wieder mit roter Flüssigkeit.
Benjamin war von dem rätselhaften Vorgang so fasziniert, dass er die Gestalt an seiner Seite zuerst gar nicht bemerkte. Eine Frau stand dort, um die vierzig, die Augen hell in einem dunkel gefärbten Gesicht, gekleidet in eine schmutzige Hose und eine fleckige, fransige Jacke, die mehrere Löcher aufwies. In der linken Hand hielt sie eine Zwille aus Metall, und mit der rechten hatte sie das Gummiband gespannt.
»Aus gegebenem Anlass müssen wir darauf hinweisen, dass der Gebrauch von Schusswaffen im Supermarkt untersagt ist«, ertönte es aus dem Lautsprecher. Es war keine Frauenstimme mehr, sondern die eines Mannes. »Die verehrte Kundschaft wird gebeten, alle Waffen unseren Sicherheitsbeauftragten auszuhändigen.«
Und dann wurde es dunkel.
Brannte eben noch helles Licht in allen Bereichen des Supermarkts, von den Kassen bis hin zur Möbelabteilung ganz hinten, so herrschte jetzt fast völlige Finsternis in den Gängen. Durch eine Lücke zwischen den Regalen sah Benjamin, dass draußen auf dem Parkplatz noch immer Licht brannte, aber hier in der Mitte des Supermarktes kam kaum etwas davon an. Die Frau wurde zu einem Schemen inmitten von Schatten; ihre hellen Augen und die Zwille verschwanden im Dunkel.
Benjamin stieß sich von der Regalwand mit dem Sirup ab, rollte sich zur Seite und fühlte eine Sekunde später, wie ihn
etwas mit schmerzhafter Wucht am Knie traf. Als er aufzustehen versuchte, gab das linke Bein nach, und aus einem Reflex heraus wollte er sich irgendwo festhalten. Er bekam ein mehr als zwei Meter hohes Gestell mit Gläsern und Gefäßen aus dünnem Porzellan zu fassen, das sofort ins Wanken geriet und umstürzte. Benjamin wich zur Seite und stieß gegen Konserven, die zu einer anderthalb Meter hohen Pyramide aufgeschichtet waren, verlor das Gleichgewicht und fiel in ein Durcheinander rollender Dosen. Schüsse knallten. Benjamin sprang auf, nur noch von dem Wunsch beseelt, nach
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