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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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lange. Schluss damit. Wir können uns keine weiteren Auseinandersetzungen dieser Art leisten. Beim nächsten Mal bleibt der Supermarkt vielleicht ganz verschwunden.« Er hob den Zeigefinger. »Dies ist eine Prüfung. Wir werden auf die Probe gestellt.«
    Caspar nickte ernst und wandte sich wieder an Benjamin. »Dank dir, Freund. Wenn du jemals Hilfe brauchst … Auf mich kannst du jederzeit zählen.«
    Es schien eine Art Ritual zu sein, denn Caspar wartete ein neuerliches zufriedenes Lächeln von Hannibal ab, bevor er winkte und durch den langen Korridor davonging. Am Ende des Flurs hing eine analoge Uhr, aber ihr fehlten die Zeiger. Benjamin sah auf die helle Stelle am linken Handgelenk, wo er seine Uhr getragen hatte. Inzwischen wusste er, dass es in den bekannten Teilen der Stadt nur drei funktionierende
Uhren gab, eine im Hotel Gloria und eine zweite in der ansonsten völlig leeren Eingangshalle des Hospitals, in dem sie sich aufhielten. Die dritte befand sich angeblich in der Bibliothek, spielte für die Gemeinschaft aber keine Rolle, denn die Bibliothek galt als ein sehr gefährlicher Ort, von dem sich alle fernhielten.
    »Die Zeit spielt für uns kaum mehr eine Rolle«, sagte Hannibal, der Benjamins Blick bemerkt hatte.
    »Und doch ist immer wieder von Stunden und Minuten die Rede, manchmal auch von Jahren und Jahrzehnten.«
    »Reine Angewohnheit, mein Freund. Wir denken in Tagen, Wochen und Monaten, weil diese Einteilung der Zeit unserem Leben eine Struktur verleiht.« Hannibal blieb an einem Fenster stehen, im Schein der Sonne, die rund und gelb über den Dächern der Stadt stand. Ihr Licht spiegelte sich auf dem haarlosen Schädel des Mannes wider, der sich schon seit fast acht Jahrzehnten in der Stadt befand. »Wir messen so, wie schnell wir vorankommen bei unserem Bemühen, den Ballast des Falschen und Sündigen abzustreifen. Aber wir sind hier keine Sklaven der Zeit, Benjamin, nicht wie in der Welt, aus der wir alle kommen. Zeiger und Ziffern bestimmen nicht mehr die Einteilung unserer Tage und Nächte. Es hat bestimmt einen Grund, warum die Vorsehung uns unsere Uhren genommen und nur diese beiden gegeben hat, eine hier im Hospital, dem Ort der Heilung, und die andere im Gloria, dem Zentrum unserer Gemeinschaft. Sie zeigen uns eine neue Zeit, die der Stadt. Vielleicht weisen sie nicht darauf hin, wie spät es ist, sondern wie spät es für uns geworden ist. Vielleicht haben die Uhren irgendwann, lange vor meiner Ankunft in der Stadt, mit einem Countdown begonnen,
einem Countdown der Zeit, die uns für die Entscheidung zwischen Hölle und Paradies bleibt.«
    Benjamin sah zur Uhr am Ende des Flurs und fragte sich, welche Zeit sie in dem Moment angezeigt hatte, als ihre Zeiger verschwunden waren. Es schien aus irgendeinem Grund wichtig zu sein – vielleicht hätten sie ihm gezeigt, wie spät es für ihn geworden war.
    Es war ein seltsamer Gedanke, fand Benjamin, und damit einher ging ein seltsames Empfinden, eine Unruhe, die sich auf seine Präsenz in der Stadt bezog und ihn drängte, sie zu verlassen.
    Hannibal führte ihn zu einer Tür. »Bevor wir zu ihm gehen, Benjamin … Ich möchte die Gelegenheit nutzen, dir ebenfalls meinen Dank auszusprechen. Du bist erst seit wenigen Stunden hier und zweifellos noch immer verwirrt von all dem Neuen und Ungewohnten, aber du hast bereits einem Mann das Leben gerettet und ihn damit vor den Qualen der Wiedergeburt bewahrt. Damit hast du schon jetzt neue Positivität in die Gemeinschaft gebracht. Wir alle danken dir dafür. « Er klopfte Benjamin auf die Schulter und öffnete die Tür.
    Als sie das Zimmer betraten, kehrten Benjamins Gedanken von Vorsehung und Zeit zu dem Wunder zurück, das an diesem Ort stattgefunden hatte: Wiederauferstehung, Rückkehr von den Toten. Es stand außer Frage, dass Velazquez wirklich tot gewesen war. Niemand überlebte einen Schuss in den Hinterkopf aus nächster Nähe, und außerdem hatte Velazquez sein Leben direkt an Benjamins Ohr ausgehaucht. Aber dort lag er, in einem halbdunklen Zimmer, atmete, lebte und litt. Die zugezogenen Vorhänge sperrten den Sonnenschein aus. Er stöhnte leise, und eine Frau um die sechzig –
schlank, drahtig, das Gesicht von dünnen Falten durchzogen, das Haar kurz und dunkel, die Lippen auffallend rot – wischte ihm Schweiß von der Stirn. Besonders sanft ging sie dabei nicht zu Werke.
    »Stell dich nicht so an, Velaz«, sagte sie. »So schlimm wie dein erster Tod kann’s kaum sein.«
    »Ich sterbe«,

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