Die Stadt - Roman
befürchtete er, dass seine Vermutung richtig war, dies alles könnte nicht mehr als ein Traum, ein Fieberwahn sein, aus dem er jetzt erwachte, um festzustellen, dass er im Krankenhaus lag und sein Körper dicht unter den Hüften
endete. Doch der Supermarkt verschwand nicht. Er schien sich zu reduzieren auf etwas, das für Benjamin eine wesentliche Rolle spielte; seine Aufmerksamkeit sollte fokussiert und nicht von anderen Dingen abgelenkt werden.
Benjamin stellte fest, dass er vor einem großen Bücherregal stand. Sein Blick glitt über Covers und verharrte bei einem, das eine Stadt zeigte, umgeben von Flammen auf der einen Seite und Eis auf der anderen. Die Schriftzeichen über diesem Bild bestanden für einen Moment aus völlig sinnlos wirkenden Schnörkeln, Strichen und Punkten. Doch als er sich auf sie konzentrierte, wurden sie plötzlich zu Buchstaben, die sich zu Worten aneinanderreihten. »Die Stadt«, lautete der Titel des Buchs, und der Autor war seltsamerweise nicht angegeben. Benjamins Herz schlug schneller, als er das Buch nahm und es öffnete.
Auf den einzelnen Seiten zeigten sich ähnliche Schnörkel und Striche wie zuerst auf dem Cover, aber als Benjamins Blick länger als ein oder zwei Sekunden darauf verharrte, verwandelten sie sich ebenfalls. Die Druckerschwärze verblasste, und ein Glühen drang aus ihren grauen Resten, ein heller werdendes Leuchten, das von zahlreichen kleinen Flammen ausging. Erschrocken ließ Benjamin das Buch los, aber es fiel nicht etwa zu Boden, sondern schwebte vor dem Regal und gebar Flammenzungen, die aus dem Papier leckten, ohne es zu verbrennen, obwohl er deutlich ihre Hitze fühlte. Das Feuer knisterte und gleißte ihm entgegen, und zwischen den Flammen schien sich ein Gesicht zu formen. Benjamin versuchte es zu erkennen, aber schließlich zwang ihn die Hitze, die Augen zu schließen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Velazquez.
Wie kann alles in Ordnung sein?, dachte Benjamin benommen. Wir sind tot und befinden uns in einer Stadt, von der wir nicht einmal sicher sein können, dass sie wirklich existiert! Wie kann unter solchen Umständen irgendetwas in Ordnung sein? Und er dachte: Fühlt er die Hitze nicht?
Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er das Buch in der Hand hielt. Die Seiten waren glatt und kühl und voller schwarzer Buchstaben, die Worte bildeten, keine Schnörkel oder unverständliche Schriftzeichen. Benjamin starrte darauf hinab und las »Du musst«, zwei Worte, die die ganze Seite füllten. Besser gesagt, fast die ganze Seite. In der letzten Zeile stand geschrieben: Verlass die Stadt.
»Man könnte meinen, du hältst zum ersten Mal ein Buch in Händen«, sagte Velazquez.
»Zum ersten Mal? Ich?«, erwiderte Benjamin. »Wohl kaum.« Er hatte Hunderte, Tausende von Büchern gelesen. Ganz deutlich erinnerte er sich an all die Geschichten. »Es gibt eine Theorie, nach der jedes Buch, jede in Worte gefasste Idee, ein neues Universum schafft, woraus folgt: Es existieren unzählige Universen, und in jedem einzelnen ist die zentrale Idee eines Autors verwirklicht.« Er stellte das Buch ins Regal zurück. »Vielleicht gilt das auch für uns. Vielleicht verkörpern wir eine Geschichte, die irgendwo in einem Buch geschrieben steht.«
Velazquez strahlte. »Herzlich willkommen in der Gemeinschaft. Mit dieser Theorie bist du bei all den anderen gut aufgehoben.«
Benjamin drehte sich zu ihm um und erstarrte erschrocken, als ein Mann aus einer Öffnung in der Decke sprang, hinter Velazquez landete und ihm in den Kopf schoss.
10
Blut spritzte aus dem Hinterkopf, als die freundliche Lautsprecherstimme des Supermarkts verkündete: »Frisch eingetroffen: Blutorangen, nur zwei Talann das Kilo.«
Velazquez kippte nach vorn, die Augen weit aufgerissen und den Mund geöffnet, als wollte er noch etwas sagen. Benjamin sah den Mann hinter ihm: groß, die langen Haare im Nacken zusammengebunden, Wangen und Kinn unter einem ungepflegten Bart verborgen, die Augen stahlgrau, in ihnen der Glanz wilder Entschlossenheit. Die Kleidung des Mannes war verschlissen, an vielen Stellen geflickt, und die Kugel, die sich Velazquez in den Kopf gebohrt hatte, stammte aus einem uralten Revolver.
Benjamin stand wie gelähmt und wich nicht aus, als der Sterbende auf ihn fiel. Er ging mit ihm zu Boden und war geistesgegenwärtig genug, die Arme über den Kopf zu heben, um ihn vor dem Aufprall zu schützen. Velazquez lag auf ihm, den Mund dicht an seinem Ohr, und er hörte, wie er
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