Die Stadt - Roman
noch immer so laut, dass er nichts verstand.
Ein neues Bild formte sich und präsentierte ihm eine andere Art von Vertrautheit. Wieder schwamm er in grenzenlosem Wasser, in einem Meer, das auf allen Seiten spiegelglatt bis zum Horizont reichte, grau unter einem grauen Himmel. Aber diesmal war er nicht allein. Nur ein Dutzend Meter entfernt sah er ein kleines Boot, und erleichtert schwamm er darauf zu. Doch als er sich ihm näherte, begann jemand darin zu rudern, und der Abstand vergrößerte sich wieder. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrmals, und Benjamin fühlte seine Kräfte schwinden.
»Bitte lass mich an Bord!«, rief er. »Ich kann mich kaum noch über Wasser halten.«
Daraufhin drehte sich die Gestalt im Boot um, und er erkannte …
»Kattrin!«, rief Benjamin.
»Deine Kattrin ist nicht hier«, sagte Abigale. »Wir kümmern uns um dich.«
Das Hospital
11
Benjamin stand mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel des Badezimmers und betrachtete seinen rechten Oberarm. Dicht bei der Schulter wies eine kleine Rötung auf die Stelle hin, wo ihn die Kugel getroffen hatte. Die Wunde hatte sich in den vergangenen beiden Stunden geschlossen, nachdem das Projektil herausgewandert war. Benjamin griff in die Hosentasche, holte den kleinen Klumpen Blei hervor und betrachtete ihn nachdenklich. Wunden heilten schnell in diesem Jenseits, ohne dass sie besondere Behandlung erforderten, und Tote erwachten zu neuem Leben, wie zum Beispiel Velazquez, der in einem der Zimmer lag und seit einer Stunde wieder atmete.
Aber während der ersten Stunde hatte sich nicht ein Muskel in ihm gerührt. Die Lunge hatte sich nicht mit Luft gefüllt, das Herz hatte kein Blut durch die Adern gepumpt. Benjamin war kein Arzt. Er wusste nicht im Detail, was nach Eintritt des Todes mit dem Körper geschah, aber er vermutete, dass die Zersetzung auf dem zellularen Niveau sofort begann und insbesondere die Gehirnzellen betraf. Sechzig Minuten nach dem Exitus konnte es keine funktionierende neurale Leitstelle mehr geben, die organische Funktionen
überwachte und steuerte. Doch Velazquez atmete – er lebte , ebenso wie die beiden Wächter, die im Supermarkt erschossen worden waren, und auch die Streuner, die ihren Angriff mit dem Leben bezahlt hatten. Beziehungsweise mit einem ihrer Leben.
Benjamin starrte in den Spiegel, sah sein vom weißen Licht des Supermarkts wie bei einem Sonnenbrand gerötetes Gesicht und dachte: Wie viele Leben haben wir nach unserem Tod? Seine Gedanken, registrierte er, kreisten in neuen, ungewohnten Bahnen, und er beobachtete sie wie jemand, der exotischen Geschöpfen bei ihren Bewegungen zusah und versuchte, einen Sinn darin zu erkennen. Er begriff plötzlich, dass er vorsichtig sein musste, denn irgendwo auf diesen mentalen Minenfeldern drohte Wahnsinn. Jenes Bild vom spiegelglatten Meer, das sich wiederholt hatte: Bot es einen ersten Hinweis darauf, dass er den Verstand zu verlieren drohte, dass sein Geist zerfranste wie ein altes Tuch?
Die Tür öffnete sich, und Hannibal sah herein. »Benjamin? Abigale hat mir gesagt, dass du Bescheid wissen wolltest.«
»Ja.« Er zog rasch das Hemd über, nahm den Parka mit dem Einschussloch im rechten Arm und trat zu Hannibal in den Flur. Dort kam ihm ein Mann entgegen, dessen Gesicht ebenfalls stark gerötet war. Am Hals zeigten sich zwei Flecken, einer auf der linken, der andere auf der rechten Seite.
»Ich bin Caspar«, sagte er. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen und bedanken.«
Benjamin erinnerte sich. »Du hast auf mich geschossen, nicht wahr?« Sonnenbrand ist eine Verletzung der Haut, dachte er. Wieso haben sich die Hautzellen nicht längst davon erholt?
»Was ich sehr bedauere«, sagte Caspar, und Hannibal kommentierte die Worte mit einem zufriedenen Nicken. »Ich kannte dich nicht und habe dich für einen Streuner gehalten. Das tut mir sehr leid. Du hast mir trotzdem geholfen und mich nach draußen gebracht, wo mir jemand den Pfeil aus dem Hals gezogen hat. Andernfalls wäre ich im Supermarkt geblieben und dort vermutlich gestorben. Ist er inzwischen zurückgekehrt?« Die letzten Worte richtete er an Hannibal.
»Als ich hierhergekommen bin, wurde das Licht schwächer. Ich nehme an, dass er in der nächsten Stunde wieder erscheint.«
»Sprecht ihr vom Supermarkt?«, fragte Benjamin. »Ist er verschwunden?«
»Das dritte Mal, seitdem ich hier bin«, sagte Hannibal. »Das letzte Mal geschah das vor fast fünf Jahren. Diesmal dauert die Rückkehr besonders
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