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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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draußen zu entkommen, weg von den Leuten, die offenbar auf alles schossen, was sich zwischen den Gängen bewegte. Streuner, dachte er, als er so schnell wie möglich durch die Dunkelheit hinkte, der breiten Fensterfront bei den Kassen entgegen. Vermutlich waren es die Streuner, von denen er schon mehrfach gehört hatte. Sie versuchten den Supermarkt unter ihre Kontrolle zu bringen.
    Draußen ratterte eine automatische Waffe, und eine der großen Scheiben zerbarst. Mehrere Gestalten sprangen herein, vermutlich Wächter aus den Gebäuden zu beiden Seiten des Parkplatzes. Eine von ihnen bemerkte Benjamin, der den Arm hob und darauf hinweisen wollte, dass er nicht zu den Streunern gehörte. Doch vielleicht glaubte der Mann, dass er mit einer Waffe auf ihn zielen wollte, denn er schoss sofort.
    Stechender Schmerz zuckte durch Benjamins rechten Oberarm, und gleichzeitig wurde er herumgerissen. Zwei oder drei benommene Sekunden später fand er sich auf dem Boden wieder, und ein glattrasiertes Gesicht erschien über ihm.
    »Ich bin der Neue!«, stieß Benjamin hervor. »Ich bin Benjamin!«

    »Ich weiß von keinem Neuen. Du …« Der Mann kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn plötzlich steckte ein Pfeil in seinem Hals. Er ließ die Pistole fallen, griff mit beiden Händen nach dem Pfeil, sank auf die Knie und gab dabei gurgelnde Geräusche von sich. Dann kippte er zur Seite, stieß mit dem Kopf gegen eine Trennwand und blieb röchelnd liegen, den Blick der weit aufgerissenen Augen auf Benjamin gerichtet.
    Hinter ihm erschien die Frau, die zuvor mit einer Zwille auf ihn geschossen und ihn am Knie getroffen hatte. Doch diesmal hielt sie eine Armbrust in der Hand, auf deren Schiene bereits ein neuer Pfeil lag. Ihr Gesicht blieb völlig ausdruckslos, als sie auf Benjamin zielte.
    In seiner Schulter brannte noch immer heißes Feuer, und die Pistole, die der Mann fallen gelassen hatte, lag zwei Meter entfernt, unerreichbar für ihn. Trotzdem hielt er sie plötzlich in der Hand, ohne dass er sich daran erinnern konnte, sie ergriffen zu haben, und richtete sie auf die Streunerin. In ihrem Gesicht änderte sich nichts; nur in ihren Augen schien kurz Überraschung aufzuleuchten, Benjamin war nicht ganz sicher. Er wollte abdrücken und schießen, bevor sie schoss, aber der Zeigefinger gehorchte ihm nicht.
    »Verschwinde«, zischte er. »Hau ab.«
    Die Frau hob eine Braue, wirbelte herum und stob davon.
    »Der Gebrauch von Schusswaffen im Supermarkt ist verboten«, wiederholte die aus den Lautsprechern tönende Männerstimme. »Die verehrte Kundschaft wird darauf hingewiesen, dass wir nun Gegenmaßnahmen ergreifen. Bitte folgen Sie den Anweisungen der Sicherheitskräfte.«
    Das Licht kehrte in den Supermarkt zurück, aber es kam
nicht von den Lampen, sondern aus der leeren Luft, aus dem Nichts: ein Glühen, das sich immer mehr ausdehnte und alle Schatten fraß. Benjamin ließ die Pistole fallen, als sie plötzlich so heiß wurde, dass er sich die Hände daran zu verbrennen drohte. Er versuchte den Schmerz in seiner Schulter zu ignorieren, rappelte sich auf, ergriff ein Bein des verletzten Mannes, der noch immer leise stöhnte, und zog ihn zum zerbrochenen Fenster. Hinter ihm fielen keine Schüsse mehr, und das Geschrei von Angreifern und Verteidigern wurde leiser. Ein Sirren schwoll an, wie von einem heranfliegenden Insektenschwarm, und das Glühen verwandelte sich in ein weißes Gleißen, dessen Intensität alle Farben verbrannte.
    Benjamin erreichte die Fensterfront und hörte das Knirschen der Glassplitter unter seinen Schuhen ebenso wenig wie das Stöhnen des Verletzten. Männer und Frauen aus der Gemeinschaft erwarteten ihn draußen. Die Bewaffneten unter ihnen wichen vom Supermarkt zurück, und die anderen schirmten sich die Augen ab, als sie näher kamen. Mehr sah Benjamin nicht, denn er musste die Augen zukneifen – das grelle Licht blendete nicht nur, es verursachte einen Schmerz, der vom Sehnerv aus wie eine Woge durch den Körper lief. Hände ergriffen und stützten ihn, und er spürte sie wie durch dicke Wattelagen, selbst die Hand, die ihn an der rechten Schulter berührte. Das weiße Gleißen strahlte durch die Lider, und auf dieser Leinwand entstanden Bilder.
    Er sah Gesichter von Personen, die ihm vertraut erschienen, an deren Namen er sich aber nicht erinnerte. Irgendetwas verband ihn mit diesen Leuten. Ihre Lippen bewegten sich, als sie versuchten ihm etwas zu sagen, aber das vom
Supermarkt kommende Sirren war

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