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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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fehlen.«
    Der Linoleumboden knarrte unter Benjamins Fuß, als er sich bewegte.
    »Hast du das gehört?«, fragte Hannibal auf der anderen Seite der Tür.
    »Was denn?«
    Benjamin schlich auf leisen Sohlen zum Ende des Flurs. Als sich die Tür hinter ihm öffnete, lief er und sprang die Stufen hoch. Wenige Sekunden später erreichte er den nächsten Stock, riss die Tür auf und sah vor sich einen langen Flur mit einigen Sitzbänken.

    Das Geräusch von Schritten kam aus dem Treppenhaus.
    Benjamin eilte zur ersten Tür auf der linken Seite, öffnete sie leise und betrat ein dunkles Zimmer. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, verharrte er in Reglosigkeit, das Pochen seines Herzschlags so laut, dass er befürchtete, sich allein dadurch zu verraten.
    Etwas Licht filterte durch die zugezogenen Vorhänge, und Benjamin stellte fest, dass er nicht allein war.
    Eine junge Frau lag auf dem Bett, bleich und tot.

13
    Benjamin stand vor dem Bett, starrte auf die Leiche hinab und wusste nicht, ob nur Sekunden oder Minuten vergangen waren. Die Stille im Zimmer schien aus dem toten Körper zu kommen, der fast so weiß war wie das Laken, das ihn umhüllte, und die Düsternis kroch unter den gesenkten Lidern hervor, als hätte sie die Augen gefüllt und es wäre noch genug für das Zimmer übrig. Die Frau war schön, selbst im Tod: das blonde Haar glatt und glänzend wie Seide, das Gesicht faltenlos, die Brauen schmal, die Wimpern lang. Benjamin betrachtete die geschlossenen Augen und fragte sich, was sie gesehen hatten, bevor sie wie Fenster zugefallen waren. Der Tod ist tatsächlich ein Dieb, dachte er. Und er stiehlt wahllos, die unwichtigen Dinge ebenso wie die wichtigen. Er nimmt sich, was wir uns im Leben genommen haben oder was uns geschenkt wurde, und er hinterlässt nichts als Leere. Er erinnerte sich daran, dass ihn dieser Gedanke zu Lebzeiten
am meisten erschreckt hatte, die Vorstellung, sich im Tod aufzulösen und alles zu verlieren, was jemals eine Rolle für ihn gespielt hatte. Nicht der Schmerz des Sterbens hatte ihm Angst gemacht, sondern das Nichts jenseits davon, die Nacht, die nie wieder einem Tag weichen würde. Jahrmillionen und Jahrmilliarden des Todes, ohne einen Gedanken, ohne ein Gefühl, ohne eine Erinnerung und ohne Ende. Nichts und Leere, bis in alle Ewigkeit. Er war immer zu vernünftig – oder zu dumm? – gewesen, an einen Gott zu glauben, doch während er auf seinen vierzigsten Geburtstag zugesteuert war, hatte er die atheistische Hoffnungslosigkeit nicht als geistige Befreiung von den Fesseln der Religion empfunden, sondern zunehmend als Last.
    Wer nichts erwartete, für den war etwas schon eine ganze Menge, und die Stadt war mehr als nur etwas . Sie mochte nur eine Zwischenstation sein, wenn Hannibal und Abigale Recht hatten, doch sie lebten hier. Es gab sogar einen Supermarkt, in dem man einkaufen konnte, ohne bezahlen zu müssen – für viele Menschen wäre das ihrer Vorstellung vom Paradies sehr nahegekommen. Aber diese Frau hier, nicht älter als fünfundzwanzig, und Velazquez und die anderen … Sie waren nach ihrem Tod noch einmal gestorben.
    Benjamin dachte diese Gedanken, und gleichzeitig beobachtete er sich dabei, wie er sie dachte. Er belauschte die eigenen Überlegungen, so wie er zuvor an der Tür gelauscht hatte, als gäbe es zwischen diesen Gedanken etwas zu entdecken, das neue Einsichten ermöglichte.
    Er streckte die Hand aus, und mit der Kuppe des Zeigefingers berührte er die Stirn der Toten. Die Fingerspitze wanderte nach unten, über den Nasenrücken, beschrieb von dort
aus einen Bogen über die Wange zu den Lippen. Die Haut war kalt, die Augen blieben geschlossen, ebenso der Mund.
    »Das ist Frederika«, sagte jemand hinter ihm. »Ein Schatten hat sie erwischt, bei einer Patrouille in der vergangenen Nacht.«
    Benjamin hatte gar nicht gehört, wie Hannibal hereingekommen war. Er drehte den Kopf und sah, wie Hannibal die Tür hinter sich schloss und näher kam. Seine Augen schienen noch tiefer in den Höhlen zu liegen als sonst.
    Es war Benjamin gleichgültig, dass Hannibal ihn hier gefunden hatte. Es spielte auch keine Rolle, ob er vermutete, dass er sein Gespräch mit Abigale belauscht hatte.
    »Wird sie leben?«, fragte er und sprach leise, wie um die Tote nicht zu stören. »So wie Velazquez?«
    »Ja. Aber da ein Schatten sie getötet hat … Dadurch dauert die Rückkehr ins Leben länger. Und sie ist jung. Aus irgendeinem Grund nimmt die Auferstehung bei den Jungen

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