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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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in der Tränenflut.
    Erneut wechselte das Bild, und auf Aikams Platz saß Dhatt. Er war in Zivil und trug den Arm in der Schlinge.
    »Ich habe verdammt noch mal nicht den blassesten Schimmer«, blaffte er. »Weshalb zum Teufel wollt ihr das von mir wissen? Wendet euch an Borlú, der hat verdammt noch mal mehr Ahnung von der Materie als ich. Was, Orciny? Nein, Leute, tue ich verdammt noch mal nicht, weil ich kein Kind mehr bin. Aber eins steht fest, auch wenn Orciny nichts weiter als ein Gehirnfurz ist, er stinkt! Leute wissen Dinge, die sie nicht wissen dürften, und andere Leute werden von unbekannten Mächten erschossen. Kinder, gottverdammt! Deshalb war ich bereit, Borlú zu helfen, und Scheiß auf die Vorschriften! Wenn ihr mir meine Marke wegnehmen wollt, nur zu. Und kein Problem, wenn ihr nicht an Orciny glaubt, ich tu's auch nicht, aber zieht den Kopf ein, für den Fall, dass euch aus der Stadt, die es nicht gibt, die Kugeln um die Ohren fliegen. Wo ist Tyador? Was habt ihr mit ihm gemacht?«
    Das Bild an der Wand erstarrte. Meine drei Befrager musterten mich im Schein von Dhatts kinogroßer grimmiger Miene.
    »Gut.« Der ältere Mann deutete mit einem Kopfnicken auf das Standbild. »Sie haben Bowden gehört. Klären Sie uns auf. Was wissen Sie über Orciny?«
 
    Grenzbruch als Ort war nichts. Ist nichts. Das ist eine Binsenweisheit, eine simple Wahrheit. Grenzbruch hat keine diplomatischen Vertretungen, keine Armee, keine Sehenswürdigkeiten. Grenzbruch hat keine Währung. Grenzbruch ist ein Niemandsraum voll strenger Bewahrer der Unverletzlichkeit der virtuellen Membran, die Besźel von Ul Qoma trennt und Ul Qoma von Besźel.
    Diese Spur, die immer und immer wieder zu Orciny führte, bedeutete systematische Grenzüberschreitungen, geheime, andere Gesetze, eine parasitäre Stadt dort, wo nichts zu sein hatte, nichts, außer Ahndung. Falls Ahndung nicht identisch war mit Orciny, in den Jahrhunderten seines Wirkens nichts geahnt hatte von Orciny, dann war diese respektierte und gefürchtete Institution nur mehr ein Hohn, eine Karikatur ihrer selbst. Deshalb fragte der Ahnder, als er von mir wissen wollte, Gibt es Orciny?, in Wirklichkeit: Haben wir Krieg?
    Ich ließ durchblicken, dass ich mir ihres Dilemmas bewusst war. Ich deutete Bereitschaft zur Zusammenarbeit an, auf der Basis, dass eine Hand die andere wäscht. »Ich helfe euch ...«, sagte ich und ließ ein »wenn« unausgesprochen in der Schwebe. Ich wollte die Mörder von Mahalia Geary und Yolanda Rodriguez haben, was sie ihrerseits natürlich wussten, aber ich war mir nicht zu schade für einen Deal. Allein dass es Raum zum Feilschen gab, einen Weg, eine geringe Chance, mich den Klauen von Ahndung zu entwinden, wirkte wie ein Aufputschmittel.
 
    »Ihr wart schon einmal kurz davor, mich einzukassieren und habt es nicht getan«, sagte ich. Ahndung hatte mich beobachtet, als ich in Ul Qoma gegenüber meinem Haus in Besźel stand. »Dann sind wir Partner?«, fragte ich.
    »Sie sind ein Grenzbrecher. Aber es wirkt sich günstig für Sie aus, wenn Sie uns helfen.« »Sie glauben wirklich, Orciny hat die beiden Frauen getötet?«, forschte der andere Mann.
    Würden sie mich liquidieren, solange auch nur die Möglichkeit bestand, dass Orciny hier neben ihnen existierte, agierte, nach wie vor unentdeckt? Dass Orcinier durch die Straßen spazierten, nicht gesehen von der Bevölkerung Besźels und Ul Qomas, weil man glaubte, sie befänden sich in der jeweils anderen Stadt? Versteckt wie Bücher in einer Bücherei ...
    Die Frau bemerkte meinen Gesichtsausdruck. »Was ist?«
    »Ich habe euch gesagt, was ich weiß, und das ist nicht viel. Mahalia war die Expertin auf diesem Gebiet, und sie ist tot. Aber sie hat etwas hinterlassen. Sie hat ihrer Freundin davon erzählt. Sie hat Yolanda erzählt, dass sie bei der Durchsicht ihrer Aufzeichnungen die Wahrheit erkannt habe. Wir haben keine entsprechenden Dateien oder Notizbücher gefunden. Aber ich kenne Mahalias Arbeitsweise. Ich weiß, wo wir diese Aufzeichnungen finden.«

24. Kapitel
 
    Am Morgen verließen wir das Gebäude - nennen wir es den Stützpunkt -, ich in Begleitung des älteren Ahnders. Schon nach den ersten Schritten merkte ich, dass ich nicht wusste, in welcher Stadt ich mich befand.
    Ich war fast die ganze Nacht aufgeblieben und hatte mir Filme von Befragungen angeschaut, aus Ul Qoma und aus Besźel. Ein Grenzbeamter von hüben und einer von drüben. Passanten aus beiden Städten, die nichts wussten.

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