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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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abgetretener, aus geblichener Läufer, eine Reihe von Türen. Ich hörte fremde Schritte, und als wir am Ende des Flurs ins Treppenhaus einbogen, kam uns eine Frau entgegen und ging mit kurzem Gruß an meinem Begleiter vorbei. Als Nächstes kam ein Mann, und dann gelangten wir in ein Foyer, in dem Leute hin und her gingen. Alle trugen Kleidung, die weder in Besźel noch in Ul Qoma Anstoß erregt hätte.
    Ich hörte Konversation in beiden Sprachen sowie einem dritten Idiom, einer Bastard- oder Urform, die als Bindeglied diente. Ich hörte Schreibmaschinengeklapper. Mir kam kein einziges Mal der Gedanke an Flucht. Ich gebe es zu. Ich stand unter scharfer Beobachtung.
    An den Wänden eines Büros, in das ich im Vorbeigehen einen Blick werfen konnte, hingen dicht mit Memos besteckte Pintafeln, reihten sich Aktenschränke. Eine Frau riss Papier von einem Drucker ab. Ein Telefon klingelte.
    »Kommen Sie«, sagte mein Begleiter. »Sie behaupten, Sie wüssten, wo die Wahrheit verborgen ist.«
    Doppeltüren, Türen in ein Draußen. Wir traten hindurch, und das war der Moment, in dem mich mit der blendenden Morgenhelle die Erkenntnis überfiel, dass ich nicht wusste, in welcher Stadt wir uns befanden.
 
    Nach der ersten Panik sagte mir die Vernunft, dass wir in Ul Qoma sein mussten, dort lag der Ort, zu dem wir wollten. Ich folgte meinem Begleiter/Bewacher die Straße hinunter.
    Der frühe Morgen war lärmerfüllt, bewölkt, aber trocken, lebensprall. Und kalt: Jeder Atemzug traf die Lunge wie ein Schlag. Ich fühlte mich angenehm überwältigt von den vielen Menschen, dem Gedränge winterlich vermummter Qomani, dem Brummen der Autos, die in dieser hauptsächlich Fußgängern vorbehaltenen Zone Schritttempo fuhren, dem Geschrei der Straßenhändler, die lautstark um Käufer für ihre Kleider, Bücher, Lebensmittel warben. Alles andere nichtsah ich. Über unseren Köpfen das Summen von Tauen, als der Wind an einem der qomanischen Gasballons zerrte.
    »Ich muss Sie wohl nicht eigens darauf hinweisen, dass es keinen Sinn hat, an Flucht zu denken. Ich muss Sie nicht darauf hinweisen, dass es zwecklos wäre, um Hilfe zu rufen. Sie wissen, dass ich Sie aufhalten kann. Desgleichen wissen Sie, dass ich nicht der Einzige bin, der Sie beobachtet. Sie sind im Grenzbruch. Nennen Sie mich Ashil.«
    »Sie wissen, wie ich heiße.«
    »Solange Sie mit mir unterwegs sind, heißen Sie Tye.«
    Weder Tye noch Ashil waren übliche Namen in Besźel beziehungsweise Ul Qoma, jedoch in beiden Städten akzeptabel. Ashil ging vor mir her über einen Hof, unter Fassaden mit steinernen Figuren und Glocken, Videoschirmen für Börseninformationen. Mir kam alles fremd vor.
    »Sie werden hungrig sein«, sagte Ashil.
    »Halb so schlimm.«
    Er bog ab in eine weitere deckungsgleiche Straße, in der an qomanischen Buden gegenüber einem Supermarkt Software und allerlei Sonstiges feilgeboten wurden. Er nahm meinen Arm und steuerte mich in eine bestimmte Richtung. Ich wunderte mich, weil nichts Essbares in Sicht war, außer - und einen Moment sträubte ich mich, weiterzugehen - Imbissküchen mit süßen Klößen und dunklem Brot, aber sie standen in Besźel.
    Ich bemühte mich, sie zu nichtsehen, aber kein Zweifel: Dieser Ursprung der appetitlichen Düfte, die ich ignorierte, war unser Ziel. »Weiter, weiter«, sagte er und schob mich mit festem Griff durch die Membrane zwischen den Städten; ich hob den Fuß in Ul Qoma, setzte ihn nieder in Besźel, wo das Frühstück wartete.
    Hinter uns stand eine junge Qomani mit himbeerfarbener Punkfrisur, die Freischaltungen für Handys verkaufte. Sie schaute erst überrascht, dann konsterniert, dann legte sich wie ein Schleier Nichtsehen über ihre Augen, als Ashil in Besźel etwas zu Essen bestellte.
    Ashil bezahlte mit Besźmark. Er drückte mir den Pappteller in die Hand, führte mich zurück über die Straße zu dem Supermarkt in Ul Qoma. Dort kaufte er mit Dinaren eine Packung Orangensaft und gab sie mir. Ich marschierte, Essen und Trinken in den Händen, neben Ashil in der Mitte der deckungsgleichen Straße. Meine Wahrnehmung geriet aus den Fugen wie bei einem von Hitchcocks beliebten Effekten. Trickreiche Kamerafahrt und Spiel mit der Perspektive: Die Straße erschien länger und der Fokus änderte sich. Alles, was ich bis jetzt nicht gesehen hatte, sprang mich plötzlich an.
    Geräusche und Gerüche gesellten sich dazu, die Stimmen Besźels, das Klappern und Altmetallgeschepper der Trams, der Qualm aus den

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