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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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älter als ich. Vierschrötig und untersetzt, die Kleidung ebenso bar jeder Individualität wie die meine. Er war nicht allein gekommen, hinter ihm standen noch ein Mann, im Alter irgendwo zwischen uns, und eine Frau, nach meiner Schätzung etwa gleichaltrig mit mir. Auf ihren Gesichtern zeigte sich nichts, was man auch nur entfernt als Ausdruck bezeichnen konnte. Sie sahen aus wie Gestalten aus Lehm, in dem Augenblick, bevor Gott seiner Schöpfung Leben einhauchte.
    »Setzen Sie sich.« Der ältere Mann deutete auf einen Stuhl. »Kommen Sie aus der Ecke heraus.«
    Wahrhaftig. Ich drückte mich in die Zimmerecke wie im Stummfilm die Heroine vor dem Unhold. Ich atmete langsam aus und straffte den Rücken. Ich löste die Hände von der Wand. Ich stellte mich aufrecht hin wie ein normaler Mensch.
    Lange Minuten vergingen. Ich sagte: »Wie peinlich.« Dann: »Entschuldigen Sie.« Ich setzte mich auf den Stuhl, auf den der Mann zeigte. Als ich sicher war, dass meine Stimme mir wieder gehorchte, sagte ich: »Ich bin Tyador Borlú. Und Sie?«
    Der ältere Mann nahm mir gegenüber Platz und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, musterte mich mit der abstrakten Neugier eines Vogels.
    »Ahndung«, sagte er.
 
    »Ahndung.« Ich holte bebend Atem. »Ahndung, was sonst.«
    Nach einer Pause fragte er: »Was haben Sie erwartet? Was erwarten Sie?«
    War das zu viel? In einer anderen Situation hätte ich eine Antwort gewusst.
    Ich hatte das Gefühl, dass ich aus den Ecken heraus beobachtet wurde. Meine Blicke irrten durch den Raum, als hofften sie, den oder die verborgenen Lauscher zu entdecken. Der Mann streckte mir die rechte Hand entgegen, zeigte mit dem gespreizten Mittel- und Zeigefinger auf meine Augen, dann auf sein Gesicht. Schauen Sie mich an. Ich gehorchte.
    Er betrachtete mich unter gesenkten Brauen hervor. »Die Lage der Dinge«, sagte er. Ich merkte, dass wir beide Besź sprachen. Er hörte sich nicht an wie ein Besź, auch nicht wie ein Qomani, war aber ebenso wenig Europäer oder Nordamerikaner. Sein Akzent war nicht einzuordnen.
    »Sie haben Grenzbruch begangen, Tyador Borlú. Mit einem Akt der Gewalt. Im Zuge dessen haben Sie einen Menschen getötet.« Er fixierte mich mit einem durchdringenden Blick. »Sie haben von Ul Qoma über die Grenze nach Besźel hineingeschossen. Deswegen sind Sie hier bei uns, im Grenzbruch.« Er faltete die Hände auf der Tischplatte. Ich beobachtete, wie die feinen Knochen und Sehnen sich unter der Haut bewegten, nicht anders als bei mir. »Sein Name war Yorjavic. Der Mann, den Sie getötet haben. Erinnern Sie sich an ihn?«
    »Ich ...«
    »Sie kannten ihn von früher.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Aus Ihrem Mund. Wir bestimmen, wie lange einer unter Einfluss bleibt, was er sieht und was er sagt in dieser Zeit, wann er wieder zu sich kommt. Falls er wieder zu sich kommt. Woher kennen Sie ihn?«
    Ich schüttelte den Kopf, aber ... »Die Rechten Bürger«, sagte ich plötzlich. »Er war dabei, als ich mich mit ihnen unterhalten habe.« Er hatte Gosz, den Anwalt, angerufen. Einer der arroganten Nationalisten.
    »Er war Soldat«, sagte mein Gegenüber. »Sechs Jahren in den BAF. Scharfschütze.«
    Keine Überraschung. Es war ein meisterlicher Schuss gewesen. »Yolanda!« Ich hob den Blick. »Jesus, Dhatt. Was ist mit ihnen?«
    »Senior Detective Dhatt wird seinen Arm nie wieder gebrauchen können wie vorher, aber er befindet sich auf dem Weg der Besserung. Yolanda Rodriguez ist tot.« Sein Blick forschte in meinem Gesicht. »Die Kugel, die Dhatt getroffen hat, war für sie bestimmt. Der zweite Schuss traf sie in den Kopf.«
    »Gottverdammt.« Sekundenlang mochte ich niemanden anschauen, studierte die Tischplatte. »Weiß ihre Familie Bescheid?«
    »Man hat sie benachrichtigt.«
    »Wurde noch jemand getroffen?«
    »Nein. Tyador Borlú, Sie haben Grenzbruch begangen.«
    »Er hat Yolanda ermordet. Sie wissen nicht, was er außerdem ...«
    Der Mann lehnte sich zurück. Ich nickte schon entschuldigend, resignierend, bevor er sagte: »Yorjavic hat sich keines Grenzbruchs schuldig gemacht, Borlú. Er beging seine Tat in der Kopula. Kein Grenzbruch. Anwälte mögen streiten: Wurde das Verbrechen in Besźel begangen, wo er den Abzug betätigte, oder in Ul Qoma, wo die Kugel ihr Ziel traf? Oder an beiden Orten zugleich?« Er breitete in einer eleganten Wen-interessiert's -Geste die Hände aus. »Yorjavic hat nicht Grenzbruch begangen. Der Grenzbrecher sind Sie.«
 
    Sie gingen, dafür wurde Essen

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